Im Sommer 1969 führte das bekannteste Gesicht der antiautoritären Bewegung in Westdeutschland, Rudi Dutschke, ein Interview mit dem Mitbegründer der linkskommunistischen „Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands“ (KAPD), Bernhard Reichenbach. Bereits zuvor hatte sich Dutschke immer wieder in die Tradition der historischen Rätebewegung gestellt, etwa als er zusammen mit Bernd Rabehl, Christian Semmler und Hans Magnus Enzensberger im „Kursbuch 14“ über eine rätedemokratische Umgestaltung Berlins diskutierte oder als er in seiner „Ausgewählte[n] und kommentierte[n] Bibliographie des revolutionären Sozialismus von K. Marx bis in die Gegenwart“ neben zahlreichen Werken zu den verschiedenen Rätebewegungen auch Henriette Roland Holst´s „Generalstreik und Sozialdemokratie“ aufnahm.
Bernhard Reichenbach war 1917 Gründungsmitglied der „Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“ (USPD), bevor er 1920 die KAPD mit ins Leben rief. In der Zeit des Nazifaschismus war er einer der wichtigsten Organisatoren der linksradikalen Widerstandsgruppe „Rote Kämpfer“. 1935 musste er nach Großbritannien emigrieren, wo er als Journalist arbeitete. Dort erholte sich auch Rudi Dutschke nach dem Attentat auf sich. Das folgende Gespräch wurde also sehr wahrscheinlich 1969 dort geführt.
Das Interview wurde in Auszügen wiederholt in verschiedenen linkskommunistischen Publikationen und Webseiten abgedruckt. Das vollständige Gespräch konnte bisher trotz intensiver Bemühungen nicht aufgefunden werden (s. dazu: Rhena Stürmer, Jenseits des Bolschewismus. Lebenswege Weimarer Linkskommunisten zwischen den Systemen des 20. Jahrhunderts, Wallstein Verlag, Göttingen 2025, S. 11.) Die hier verwendete Version ist abrufbar unter: https://libcom.org/article/bernard-reichenbachthe-kapd-retrospect-interview-member-communist-workers-party-germany und wurde mithilfe einer KI ins Deutsche übersetzt.
Die deutschen Arbeiterräte
Rudi Dutschke: Zwischen 1920 und 1923 agierte die KAPD als außerparlamentarische Opposition. Halten Sie dies für wesentlich?
Bernhard Reichenbach: Ja. Sie lehrte die Menschen, aus eigener politischer Initiative heraus zu handeln, unabhängig von irgendwelchen Vertretern.
R.D.: Damals drückte sich dies nicht nur als außerparlamentarische Opposition aus, sondern auch als antiparlamentarische Opposition. Hielten Sie es für wesentlich, dass die Arbeiterklasse gegen parlamentarische Institutionen kämpft?
B.R.: Auf jeden Fall. Sie müssen bedenken, dass Ende 1918 in Deutschland eine revolutionäre Situation herrschte. Die Teilnahme an parlamentarischen Aktivitäten empfanden wir als Verrat. Das Parlament wurde unter anderem für den Krieg verantwortlich gemacht. Im Jahr 1919 fand fast die gesamte linke Politik innerhalb der Arbeiterräte statt, nicht in den Gewerkschaften oder im Parlament. Die Räte waren außerparlamentarische und potenziell antiparlamentarische Institutionen. Das Problem war, dass in diesen Räten die Sozialdemokraten die Mehrheit hatten. Sie stellten eher ökonomistische als politische Forderungen, eher reformistische als revolutionäre Forderungen. Die Sozialdemokraten setzten diese Ansichten jedoch nicht durch. Ihre Mehrheit spiegelte den Willen der breiten Masse der Arbeiter innerhalb der Räte wider, und das sogar während einer revolutionären Situation.
R.D.: Ein Leninist würde argumentieren, dass es an einer Führungspartei fehlte, die die Politik der Sozialdemokraten zum Krieg aufgedeckt hätte, und dass es das Fehlen einer solchen Partei war, das die Revolutionäre daran hinderte, die revolutionäre Situation zu einem Abschluss zu bringen.
B.R.: Die Bedingungen in Deutschland unterschieden sich erheblich von denen in Russland. Russland befand sich am Ende einer jahrhundertelangen autokratischen Herrschaft. Die gesamte gesellschaftliche Atmosphäre war reif für einen grundlegenden Wandel. Deutschland hatte eine Tradition parlamentarischer Institutionen, eine Tradition der Regierung durch gewählte Vertreter. Unter solchen Bedingungen ist eine Revolution viel schwieriger, weil sie als Zwang gegen demokratisch gewählte Vertreter erscheint. Nach all den Jahren einer bürgerlichen Mehrheit im Parlament erschien der Sieg der Sozialdemokraten als entscheidender Sieg für die Linke. Es stimmt zwar, dass der entscheidende Schauplatz des Kampfes um die politische Macht innerhalb der Arbeiterräte lag, aber aus den zuvor genannten Gründen kam jede Aktion gegen die gewählte Regierung nicht in Frage, insbesondere solange diese innerhalb der Räte über eine Mehrheit verfügte.
R.D.: Wie sah die tatsächliche Tätigkeit der Räte gegenüber den Gewerkschaften und Parteien aus?
B.R: Unabhängige Räte, die sich nicht wie bisher auf Berufe, sondern auf Fabriken stützten, entstanden spontan in ganz Deutschland. Dies war zu einem erheblichen Teil eine Folge des wirtschaftlichen Chaos. Wenn eine Fabrik aufgrund von Brennstoff- oder Rohstoffmangel stillstand, gab es niemanden, an den man sich um Hilfe wenden konnte. Regierung, Parteien, Gewerkschaften, Kapitalisten – niemand konnte etwas tun, um die grundlegenden Probleme des Transports, der Brennstoffe, der Rohstoffe usw. zu lösen. Beschlüsse, Erklärungen, Anordnungen und sogar Papiergeld waren wenig hilfreich. Unter diesen Umständen bildeten die Arbeiter einen Rat und machten sich daran, diese Probleme selbst zu lösen. Wir von der KAPD waren der Meinung, dass die Gewerkschaften ein Hindernis für die Schaffung einer neuen Gesellschaft darstellten und dass es vor allem darauf ankam, die Arbeiter zu ermutigen, unabhängig von den Gewerkschaften direkt zu handeln.
R.D.: Wie war Ihre Haltung gegenüber den Gewerkschaftsmitgliedern im Gegensatz zur Gewerkschaftsführung?
B.R.: Wir erklärten ihnen immer wieder, dass es unerlässlich sei, sich auf der Grundlage der Arbeitsstätten und nicht der Berufe zu organisieren und einen nationalen Verband der Betriebsräte zu gründen.
R.D.: Wie viele revolutionäre Parteien gab es damals?
B.R.: Im Jahr 1920 gab es fünf Parteien, die eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft anstrebten und sich alle als marxistisch bezeichneten: die SPD, die USPD, die Links-USPD, die KPD und die KAPD. Daneben gab es verschiedene anarchistische Gruppen. Die Arbeiterklasse war durch ihre gegenseitigen Streitigkeiten gespalten und zeigte gegenüber der Bourgeoisie wenig gemeinsames Handeln.
R.D.: Worin bestanden die Unterschiede zwischen den Mitgliedern Ihrer Partei und der KPD in Bezug auf ihr Handeln an ihren Arbeitsplätzen?
B.R.: Die KPD handelte damals organisatorisch und taktisch genau wie die Sozialdemokraten; die einzigen Unterschiede bestanden in den Parolen. Wir standen für direkte Aktionen der Arbeiter.
R.D.: Gab es damals innerhalb der KPD bereits Unterschiede zwischen denen, die für die Herrschaft der Partei eintraten, und denen, die für die Herrschaft der Räte eintraten?
B.R.: Das war von Fabrik zu Fabrik sehr unterschiedlich. Im Allgemeinen war es das soziale Klima und die weit verbreitete Praxis, dass Arbeiterräte als anerkannte – fast natürliche – Institutionen fungierten.
R.D.: Wie waren die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der rivalisierenden Parteien an ihren Arbeitsplätzen?
B.R.: Auch das war von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich. Eine einzelne Person in einer Schlüsselrolle konnte eine Atmosphäre schaffen, die den Ausschlag gab. Oftmals gab es eine ausgezeichnete Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedern aller Parteien. Fast immer war dies auf einen Arbeiter in einer Führungsrolle zurückzuführen, der aufgrund seiner Führungsqualitäten von allen respektiert wurde. An anderen Orten gab es unaufhörliche und erbitterte Streitigkeiten.
R.D.: Können Sie detailliert beschreiben, wie die Organisation innerhalb einer Fabrik aussah?
B.R.: Nicht genau. Erstens war ich kein professioneller Arbeiter, sondern ein bezahlter Parteifunktionär. Zweitens bin ich 1920 zwar Mitglied der Geschäftsleitung einer Berliner Fabrik gewesen, aber meine Erfahrungen dort sind kaum von allgemeiner Relevanz, da die Fabrik den Arbeitern gehörte und es daher kaum Reibereien zwischen der Geschäftsleitung und dem Betriebsrat gab. In den Fabriken in Privatbesitz kam es zu Konflikten zwischen den Räten und der Geschäftsleitung. Innerhalb der Räte kam es zu Spaltungen hinsichtlich der Frage der Politik gegenüber der Geschäftsleitung – beispielsweise zwischen denen, die die Ansichten der Sozialdemokratie akzeptierten, und denen, die auf einer Arbeiterverwaltung bestanden.
Moskau 1921
R.D.: Können Sie uns etwas über die Aktivitäten der Dritten Internationale erzählen?
B.R: 1921 nahm ich als Beobachter an den Sitzungen in Moskau teil. Ich wohnte im Lux Hotel. Wir trafen uns einmal pro Woche unter dem Vorsitz von Sinowjew. Die russische Delegation war sowohl zahlenmäßig als auch hinsichtlich ihres Einflusses die stärkste. Sie beherrschte die Sitzungen mit eiserner Hand. Die deutsche Delegation war die zweitgrößte. Der enorme Einfluss Lenins resultierte vor allem aus seiner starken Persönlichkeit. Die anderen russischen Genossen waren keine Ja-Sager. Er überzeugte sie, wenn nicht durch die Kraft seiner Argumente, dann durch die Kraft seiner Persönlichkeit. Den europäischen Revolutionären war Stalin so gut wie unbekannt, und ich habe seinen Namen nie gehört. Die Leute diskutierten viel darüber, was diese oder jene Person in einer bestimmten Situation in der Vergangenheit getan oder gesagt hatte. Während meines etwa sechsmonatigen Aufenthalts habe ich Stalins Namen nicht ein einziges Mal gehört.
Ich traf Lenin 1921 in seinem Zimmer im Kreml. Wir führten eine lange Diskussion über die Lage in Deutschland. An der Wand hing eine große Karte von Russland, und es war offensichtlich, dass Lenin sehr überarbeitet war. Er erklärte mir, dass sie als Regierungspartei ein riesiges Land wie Russland zu verwalten hätten und er kaum Zeit hätte, sich mit den Details der revolutionären Aktivitäten im Westen vertraut zu machen. Ich erzählte ihm von unserer Kritik an der Politik der KPD, die als Schwesterpartei der Bolschewiki galt. Ich kritisierte ihre – und seine – Politik gegenüber dem Aufstand vom März 1921. Er sagte, dass er Trotzkis Analyse zu europäischen Angelegenheiten und Radeks Analyse zu Deutschland akzeptiere, ohne dabei ins Detail zu gehen. Das bedeutete, dass Lenin sich fast automatisch gegen uns stellte, sobald wir in einen Konflikt mit Radek gerieten, obwohl er oft gar nicht derjenige war, der die bolschewistische Linie zu diesem Thema formulierte. Ähnlich verhielt es sich in Bezug auf Frankreich.
R.D.: Wie sah es mit Diskussionen mit verschiedenen russischen Genossen aus?
B.R.: Es gab ziemlich viele dieser Diskussionen, insbesondere mit Mitgliedern der Arbeiteropposition. Einige Tage vor Beginn des Dritten Kongresses der Kommunistischen Internationale kam Alexandra Kollontai, damals ein prominentes Mitglied der Arbeiteropposition, in mein Zimmer und sagte mir, dass sie Lenin angreifen werde, nachdem er eine Rede über die Neue Ökonomische Politik (NEP) gehalten hatte. Sie erklärte, dass sie möglicherweise später verhaftet werden würde, und fragte mich, ob ich den Text ihrer Rede über die Arbeiteropposition sicher verwahren könnte. Ich sagte zu, und da wir gerade einen Kurier zu unserem Exekutivkomitee in Berlin schickten, gab ich ihm den Text mit.
Die Sitzung, in der sie ihre berühmte Rede für die Arbeiteropposition hielt (die in dem Text enthalten war, den sie mir gegeben hatte), war eines der unvergesslichsten Erlebnisse meines Lebens. Lenin, Trotzki, Radek, Sinowjew, Bucharin und andere saßen auf dem Podium. Sie stand mit dem Rücken zu ihnen und blickte auf das Publikum, zu dem revolutionäre Kämpfer aus aller Welt gehörten. Sie sprach zunächst in fließendem Deutsch, der offiziellen Sprache der Internationale. Als sie fertig war, wiederholte sie das Ganze auf Französisch für die französischen Genossen. Wahrscheinlich vertraute sie dem Dolmetscher nicht. Schließlich wiederholte sie die gesamte Rede auf Russisch. Als sie fertig war, herrschte Stille. Lenin sagte kein einziges Wort, obwohl er sich die ganze Zeit Notizen machte. Trotzki antwortete für die Plattform. Er versuchte, die ganze Sache herunterzuspielen, indem er sie als „Weichling” bezeichnete, der viel zu sensibel für das harte Geschäft der Revolution sei, das eine eiserne Hand erfordere. Keiner der Redner ging direkt auf ihre Argumente oder Fakten ein. Die Linie bestand darin, die gesamte Kritik herunterzuspielen, indem man sie auf eine Frage ihrer Persönlichkeit reduzierte.
Hinter den Kulissen nahm Trotzki sie in die Mangel. Sie gab nach und kapitulierte vor der Parteidisziplin. Ein paar Tage später kam sie zu mir und wollte ihr Manuskript zurückhaben. Ich konnte es ihr natürlich nicht zurückgeben. Später übersetzten meine Genossen das Manuskript ins Deutsche und veröffentlichten es unter dem Titel „Die Arbeiteropposition in Russland” von Alexandra Kollontai. Als ich nach Berlin zurückkehrte, entschied die KAPD, dass es keinen Sinn hatte, assoziiertes Mitglied der Dritten Internationale zu bleiben.
R.D.: Wie standen Lenin und Trotzki zu Ihrer Partei?
B.R.: Sie war kritisch, obwohl sie anfangs brüderlich war. Sie wollten unbedingt, dass wir der KPD beitreten und unsere unabhängige Organisation aufgeben. Aber die von den Russen diktierte Politik der KPD machte dies unmöglich. Es war offensichtlich, wie ich bereits sagte, dass die KPD zu einem Werkzeug der russischen Außenpolitik geworden war.
R.D.: Was können Sie uns über den Aufstand von 1921 erzählen?
B.R.: Zu dieser Zeit war ich in Russland. Der Aufstand, die sogenannte „Märzaktion”, wurde von den lokalen Organisationen der KPD und der KAPD durchgeführt, erstere auf Anweisung des russischen Gesandten Béla Kun (dem im Exil lebenden Führer der kurzlebigen Ungarischen Räterepublik von 1919). Zunächst wurde die Märzaktion von Lenin gebilligt. Nach ihrem Scheitern änderte er jedoch seine Meinung, hauptsächlich unter dem Einfluss von Clara Zetkin, einem Mitglied des Zentralkomitees der KPD, und Paul Levi, einem weiteren Mitglied des Zentralkomitees, der aus der Parteiführung ausschied und den Aufstand als „Putsch“ verurteilte. Er tat dies in einer Broschüre, die von Lenin und Trotzki verurteilt wurde, obwohl sie seine Kritik teilten. Die Politik von Paul Levi wurde fortgesetzt.
R.D.: Glauben Sie, dass es einen Zusammenhang zwischen der Neuen Ökonomischen Politik von 1921 und der Politik der Dritten Internationale gegenüber der „Märzaktion” gab?
B.R.: Man kann einige grundlegende Gemeinsamkeiten erkennen. Die NEP wurde von Lenin als Festigung der Revolution in Russland angesehen; er betrachtete den revolutionären Prozess als abgeschlossen. Die Bolschewiki hatten eine siegreiche Revolution in Westeuropa erwartet. Diese blieb jedoch aus, was zu einem zwiespältigen Verhältnis zwischen ihnen als Regierungspartei und den kapitalistischen Regimes in Europa führte. Einerseits wollten sie normale zwischenstaatliche Beziehungen, die ihnen friedliche Grenzen garantierten. Andererseits schwächte der revolutionäre Kampf innerhalb der kapitalistischen Länder deren Regime. Als die Bolschewiki von der Revolution im Westen desillusioniert waren, begannen sie, die revolutionären Bewegungen als Hilfsmittel der russischen Außenpolitik zu betrachten. Das begann nicht mit Stalin, sondern bereits 1921 mit Lenin und Trotzki. Im Jahr 1921 warnte Krasin, Volkskommissar für Außenhandel, in einem Interview mit der Berliner Roten Fahne (der Tageszeitung der KPD), dass ein bestimmter Streik die Lieferungen von Maschinen, die für die UdSSR hergestellt wurden, beeinträchtigen würde.
Rückblick
R.D.: Warum löste sich die KAPD 1923 auf?
B.R.: Tatsächlich löste sich die Partei 1923 nicht auf. Als die „Märzaktion” scheiterte (und später auch der Aufstand von 1923), blieben nur noch wenige hundert Aktivisten übrig. Ursprünglich waren wir eine Partei von militanten Industriearbeitern mit nur wenigen bezahlten Funktionären. Als die industrielle Aktivität dieser Militanten nachließ, hörte unsere Partei einfach auf zu existieren. Es war keine Frage einer politischen Entscheidung. Als unsere Militanten nicht mehr aktiv waren, blieb uns nichts anderes übrig, als die Situation anzuerkennen und die entsprechenden Schlussfolgerungen zu ziehen. Wir, die jüngeren Aktivisten, beschlossen, anderen politischen Parteien beizutreten, einfach weil dies der einzige Ort war, an dem wir politisch denkende Arbeiter treffen und versuchen konnten, sie für uns zu gewinnen.
Wir scheiterten aus mehreren Gründen. Erstens zählten wir in unserer besten Zeit, im Jahr 1921, nur 30.000 Mitglieder, was angesichts eines Proletariats von vielen Millionen sehr wenig war. Zweitens überschätzten wir das revolutionäre Potenzial der Arbeiter und die Rolle des wirtschaftlichen Faktors als Auslöser revolutionärer Aktivitäten. In dieser Hinsicht hatten unsere politischen Gegner Ebert und Scheidemann von der Sozialdemokratischen Partei ein realistischeres Verständnis, als sie zu dem Schluss kamen, dass ein Kampf für wirtschaftliche Verbesserungen durch Reformen eingedämmt werden kann und nicht unbedingt zu einer Revolution führen muss. Vielleicht haben wir uns in unserer Analyse der Gesellschaft geirrt, indem wir davon ausgingen, dass sie sich hauptsächlich um die wirtschaftliche Achse dreht, obwohl dies in den 1920er Jahren sicherlich der Hauptfaktor war.
R.D.: Haben Sie sich damals als Marxist betrachtet?
B.R.: Ja, ich und die meisten meiner Genossen betrachteten uns als Menschen, die Marx‘ Ideen gemäß unserer Interpretation in die Tat umsetzten. Natürlich wird jeder, der sich selbst als Marxist bezeichnet, von anderen Marxisten wegen der Unechtheit seiner Interpretation kritisiert werden. Im Allgemeinen resultierte unsere Tendenz, die Rolle „objektiver Faktoren” überzubetonen, aus unserer Interpretation von Marx‘ Ideen und trug zu unserem Scheitern bei. Ich denke, dass Marx‘ Betonung des wirtschaftlichen Faktors als Hauptmotivation für revolutionäre Aktivitäten nicht immer richtig und überall gültig ist, während seine soziologischen Erkenntnisse zu dieser Zeit richtig waren.
R.D.: Angenommen, Ihre Analyse der Gesellschaft war zu dieser Zeit gültig, wie Sie gerade gesagt haben, wo sehen Sie dann Ihre Fehler?
B.R.: Eine gültige Sozialanalyse ist eine Sache, ihre Umsetzung in die Realität eine ganz andere. Man sollte zwischen den Theorien der KAPD und der Praxis, mit der sie versucht hat, diese umzusetzen, unterscheiden (obwohl beide offensichtlich miteinander verbunden waren). Bis 1923 war die revolutionäre Aktivität der Arbeiterklasse nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und seiner politischen, sozialen, wirtschaftlichen und ideologischen Institutionen in ganz Deutschland weit verbreitet. Nach der Niederschlagung der Aufstände im März 1921 und später im Jahr 1923 wurde jedoch deutlich, dass die Arbeiterklasse zwar in Zeiten des politischen Zusammenbruchs und wirtschaftlicher Not eine eigenständige revolutionäre Initiative und Bereitschaft zeigt, für die Schaffung einer neuen Gesellschaftsordnung große Opfer zu bringen, diese Art von Aktivität jedoch in den langen Zeiträumen zwischen den einzelnen politisch-wirtschaftlichen Krisen nicht aufrechterhalten kann.
R.D.: Glauben Sie, dass das Ausbleiben einer Revolution in Deutschland auf objektive Faktoren zurückzuführen ist oder dass es am Versagen des subjektiven – revolutionären – Faktors lag?
B.R.: Es ist unmöglich, eine eindeutige Antwort auf diese Frage zu geben. Objektive Faktoren können die Voraussetzungen für eine Revolution schaffen, aber ihre Verwirklichung hängt vom subjektiven Faktor ab. Aufgrund unserer Interpretation von Marx‘ Theorie betrachteten wir den subjektiven Faktor im Vergleich zu den objektiven Faktoren als weniger bedeutend. Wir neigten dazu, unsere gesamte Aktivität auf den „ökonomischen Determinismus” zu stützen.
R.D.: Hat Lukacs diese Tendenz nicht 1924 kritisiert?
B.R.: Ja, das hat er. Andererseits griff uns Lenin auch von der anderen Seite an (in seinem berühmten Werk „Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus“) und warf uns Abenteuerlust vor, womit er meinte, dass wir uns zu sehr auf den subjektiven Faktor verlassen würden. Gorter, einer unserer niederländischen Mitstreiter, verfasste eine hervorragende Antwort darauf.
R.D.: Wer war Anton Pannekoek?
B.R.: Er war ein niederländischer Astronom, der vor dem Ersten Weltkrieg in Bremen eine revolutionäre Zeitung herausgab. Karl Radek, der später ein bolschewistischer Experte für Deutschland wurde, lernte seine revolutionäre Theorie von ihm, während er an der Zeitung arbeitete. 1917 verteidigten Pannekoek und Herman Gorter die Russische Revolution. Als die Russen 1919 ein westeuropäisches Büro der Komintern gründeten, gehörten Pannekoek und Gorter zu den Verantwortlichen.
Ihre späteren Kritiken an den Bolschewiki betrafen hauptsächlich deren Analyse und Politik gegenüber der Arbeiterklasse und den revolutionären Bewegungen in Westeuropa sowie deren mangelndes Verständnis für die Arbeiter im industrialisierten Westen. Sie wiesen darauf hin, dass das, was für die russischen Verhältnisse geeignet war, nicht unbedingt auf die völlig anderen Verhältnisse im Westen übertragbar war. Sie übten sehr detaillierte und brüderliche Kritik an Lenins Politik, auf die Lenin nie in gleicher Weise antwortete. Stattdessen erklärte er: „Die Geschichte wird entscheiden, wer Recht hatte!“
