Vorwort zu Herbert Marcuse - Zur Situation der Neuen Linken

25.03.2006

Zur Situation der Neuen Linken ist das Manuskript eines am 4. Dezember 1968 in New York von Herbert Marcuse gehaltenen Festvortrages. Anlass war das 20jährige Jubiläum der amerikanischen Zeitschrift The Guardian, deren letzte Ausgabe 1992 erschien und die somit die langlebigste linke Wochenzeitschrift der USA war. Wir haben diesen Vortrag zur Veröffentlichung ausgewählt, weil er für uns noch heute wenig an Aktualität eingebüßt hat und einige der zentralen Probleme und Perspektiven linksradikaler Politik auf den Punkt bringt. Zugleich hat er in unserer Gruppe interessante Diskussionsprozesse angestoßen, deren Stand wir mit dieser Broschüre gerne weitergeben möchten.

Zunächst geht es Marcuse um eine Lagebestimmung der Neuen Linken, die 1968 den Höhepunkt ihrer Wirkungsmacht erreichte. Diese Neue Linke, der sich Marcuse selbst zurechnete und die er nach Kräften unterstützte, verstand sich als undogmatische und antiautoritäre Bewegung, die sich vom Realsozialismus wie auch von den etablierten linken und linksbürgerlichen Parteien gleichermaßen scharf abgrenzte und stattdessen eine Rätedemokratie propagierte. In ihrem Festhalten an der Idee einer herrschaftsfreien Gesellschaft und in der Kreativität ihrer Aktionen stellt sie auch heute noch einen wichtigen Bezugspunkt für linksradikale Politik dar. Anstatt in einer zentralistischen Partei fanden sich die Neuen Linken in \"kleinen, hochgradig fexiblen und autonomen Gruppen\" oder als aktive Einzelpersonen \"mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Zielsetzungen\" zusammen. Bis heute organisieren sich viele revolutionäre Linke nach diesem Vorbild, und auch wir selbst sehen uns in dieser libertären Tradition. Und wie Marcuse wollen auch wir nicht die Avantgarde der sozialrevolutionären Linken sein, sondern ein Teil dieser Bewegung.

Marcuse nennt die Neue Linke eine \"Art von politische Guerillabewegung im Frieden oder im sogenannten Frieden\". In der Tat ist sozialer Frieden im Kapitalismus eine Illusion, die notwendigerweise nicht Wirklichke\" sein kann. Aber zur gleichen Zeit stellt Marcuse die zur damaligen Zeit unter MarxistInnen recht unorthodoxe These auf, die Arbeiterklasse sei nahezu vollständig in das Gesellschaftssystem des \"korporativen Kapitalismus\" integriert - \"und das auf einer ziemlich soliden Basis und nicht nur oberflächlich\". Das einstmals revolutionäre Proletariat des alten Marx war in der florierenden Nachkriegszeit durch ein komplexes Beziehungsgefüge aus Tarifpartnerschaft, Sozialstaat, bürokratischer Verwaltung, allgemeiner Hebung des Lebensstandards, allgegenwärtiger Konsumpraxis und kommerzieller, konformistischer Unterhaltungskultur auf vielfältige Weise in die bestehenden Verhältnisse eingebunden. An dieser tiefsitzenden Bindung der Individuen an das Kapital hat sich bis heute wenig geändert. Andererseits aber scheint zumindest die materielle Integration im Zuge eines immer offener geführten Klassenkampfes von oben und den Abbau sozialer Sicherungssysteme heute wieder abzunehmen. Bezeichnenderweise besteht jedoch die Forderung Protestierender allzu oft in nichts anderem als dem konformistischen Wunsch, wieder in das Verwertungssystem reintegriert zu werden: \"Arbeit für alle, und zwar umsonst!\"

Das Vorantreiben ideologischer Desintegration sieht Marcuse konsequenterweise als primäre Aufgabe der radikalen Linken. Dabei müssen jedoch, denken wir, bewusstseinsmäßige und soziale Desintegration gleichzeitig statt nden und neue, revolutionär-kollektive Integrationsmöglichkeiten als Ersatz für traditionelle Bindungen angeboten werden. Zu akut erscheint uns nicht nur hierzulande die Gefahr eines Abgleitens in die reaktionäre Barbarei, als dass wir die zunehmende Verelendung und soziale Deklassierung weiter Teile der Bevölkerung als sicheren Schritt hin zu einem neuen revolutionären Bewusstsein begreifen könnten. Die Linke ist darum stärker gefordert denn je, der herrschenden Ideologie eine radikale Alternative im Diskurs entgegenzustellen und diese zu verbreiten.

Bei diesem Versuch jedoch stößt die Linke erfahrungsgemäß schnell \"an die Grenzen demokratischer Überzeugungsarbeit\". Nach Marcuses Analyse werden die Massenmedien durch eine konservative Mehrheit kontrolliert. Sie bestimmt die öffentliche Meinung, indem sie auf vielfältige Weise Ein uss auf Personalpolitik, Budgetverteilung und inhaltliche Gestaltung nimmt. Auch daran hat sich bis heute wenig geändert, im Gegenteil hat die Kapitalkonzentration auf dem Medienmarkt noch zugenommen. Gleichzeitig aber haben sich neue und alternative Formen öffentlicher Kommunikation herausgebildet, die zumindest theoretisch das Potential haben könnten, das Meinungsmonopol der bürgerlichen Presse zu unterwandern. Fraglich bleibt jedoch, ob revolutionäres Gedankengut überhaupt über Medien wirkungsvoll verbreitet werden kann, oder ob nicht vielmehr - the medium is the message - die einseitige Sender-Empfänger-Struktur der Massenmedien ein wirklich emanzipatorisches Potential von vornherein ausschließt. In jedem Fall sollte das aber nicht bedeuten, den bürgerlichen Medien das Feld der öffentlichen Meinung kampflos zu überlassen. Alternative Informationen können vielleicht kein alternatives Handeln ersetzen oder für sich schon die autoritäre Charakterstruktur der Menschen aufbrechen. Aber sie können doch ein wichtiger Faktor für eine Bewusstseinsveränderung sein, der dann zusammen mit anderen Faktoren zu einer Veränderung der sozialen Verhältnisse führen könnte.

Eine wichtige Rolle in Marcuses Rede spielt die Frage nach der Alternative zum gegenwärtigen Gesellschaftssystem. Können wir heute schon denken, wie die Gesellschaft von Morgen aussehen soll? Konkrete Utopie versus bloße Negation des Bestehenden sind die beiden Extrempositionen, die bis heute dazu eingenommen wurden. Auch wir sind in dieser Frage gespalten.

Einige von uns sehen eine positive Utopie als notwendig an, da die Umsetzung der Theorie in die Praxis sonst wenig politische Anziehungskraft besitzt, und weil wir außerdem schon im Hier und Jetzt diese Utopie umsetzen wollen - soweit das eben möglich ist. Zumindest dem Anspruch nach haben bei- spielsweise Rassismus, Sexismus und autoritäres Mackertum in linken Gruppen nichts verloren. Es wäre fatal, falsche Verhaltensweisen nur deshalb zu dulden, weil es, wie Adorno schreibt, noch kein \"richtiges Leben im falschen\" geben kann.

Andere von uns vertreten ein \"Bilderverbot\", da die Zukunft einer revolutionären Gesellschaft nur negativ denkbar sein kann, solange die Umstände, die unser Denken bestimmen, kapitalistische sind. Wir werden nicht wissen, wie der \"neue Mensch\" aussehen soll, solange wir in einem System leben, dass nur kapitalistische Charaktere und Denkformen hervorbringen kann. Und alle Vorgaben für eine neue Gesellschaftsordnung bergen stets die Gefahr einer Bevormundung der Massen durch eine allwissende Führung und somit die Gefahr eines autoritären, dogmatischen Sozialismus.

Marcuse seinerseits steht irgendwo zwischen diesen beiden Positionen. Eindringlich fordert er die Entwicklung einer neuen politischen Sprache und die Entfaltung radikaler Aktionen außerhalb des gewohnten politischen Verhaltensrepertoires. Direkte Aktionen als Ausdruck organisierter Spontaneität sind genauso unsere politischen Mittel wie die Herausgabe von Broschüren im Sinne klassischer Aufklärung. Letztlich, so denken auch wir, führt kein Weg daran vorbei, den Worten auch Taten folgen zu lassen. Nur durch das konkrete Infragestellen und praktische überwinden gesellschaftlicher Herrschaftsmechanismen - etwa der bestehenden Eigentumsverhältnisse und des staatlichen Gewaltmonopols

  • können Auswege aus der kapitalistischen Gesellschaftsform aufgezeigt und initiiert werden. Dabei kann es nicht ein Patentrezept geben, mit dem die Gesellschaft wie durch magische Kraft aus den Angeln zu heben wäre. Wie die französischen SituationistInnen der 60er Jahre müssen auch wir die Revolution immer wieder neu er nden - denn sie \"kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit, sondern nur aus der Zukunft entnehmen\". Dabei können wir kein fertiges Modell vor Augen haben, sondern nur Wege im Kopf, die aus dem Bestehenden ins Ungewisse hinausführen. Eben diese Wege ins Ungewisse aber sind für uns die Revolution: der \"Sprung vom Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit.\" (Marx)

Für Marcuse war das Ziel seiner und aller linken Aktivität, kritisches Bewusstsein innerhalb der Gesellschaft zu wecken und zu verstärken. Eine radikale Veränderung der Gesellschaft war für ihn und ist auch für uns nur als breite Massenbewegung möglich. \"Der Kommunismus ist die Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl\", heißt es bereits bei Marx und Engels, doch im Gegensatz zu vielen Alten Linken hat Marcuse diesen Satz ernst genommen. Er wollte nicht nur den Kapitalismus, sondern überhaupt jede Form von Bevormundung, Unterdrückung und Unfreiheit überwinden, selbst jene, die im Namen der Befreiung selbst geschieht. Sein Vortrag ist ein Plädoyer für den libertären Sozialismus. Er ist ein Aufruf zur sozialen Revolution.

Für den Kommunismus! Für die Anarchie!

La Banda Vaga

Siehe auch: Zur Situation der neuen Linken von Herbert Marcuse.

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