Kampf, Solidarität, Klasse – was bedeutet der erste Mai?

01.05.2019

Unser Redebeitrag zum Solidarischen Straßenfest am 01.Mai 2019

1886 wurde die allererste Maidemonstration abgehalten – und zwar in Chicago, auf dem Haymarket-Platz. Damals forderten die Arbeiter_innen einen Arbeitstag von 8 Stunden statt der üblichen 12 bis 14 Stunden. Auf der Demonstration wurden Dutzende Arbeiter erschossen, hunderte verletzt. Die Organisierenden der Demonstration wurden verhaftet – und an vier von ihnen wurde das Todesurteil vollstreckt. In der Tradition der sogenannten Haymarket-Riots werden seitdem, also seit 133 Jahren, am ersten Mai Demonstrationen und Kundgebungen in der ganzen Welt abgehalten.

Etwa ähnlich alt wie der Maifeiertag ist der Begriff der Solidarität, der in der Tat mit der an Bedeutung und Schwung gewinnenden Arbeiter_innen-Bewegung der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts aufkam. Damals bedeutete der Begriff einen radikalen Wandel gesellschaftlicher Kategorien: Nicht mehr die Familie, die Verwandtschaft, oder gar die Berufsgilde waren Garanten des Überlebens„Alles Ständische und Stehende wurde verdampft“. Die Gemeinschaften, die im bis zur Industrialisierung das Überleben sicherten, fielen weg. . „Alles Ständische und Stehende wurde verdampft“. Übrig blieb die Einzelne, das Individuum, das nichts zu verkaufen hatte, außer seine Arbeitskraft. Wer nicht arbeiten konnte, stürzte in der Regel ins Elend. In ihrem individuellen Überlebenskampf waren die Lohnarbeiter_innen alle gleichermaßen auf sich gestellt.

Mit der Industrialisierung kam Solidarität als Kampfbegriff auf, der die individualisierten Arbeiter_innen miteinander vereint. Solidarität war der Schlüssel zum Kollektiv: zur neu entstehenden Arbeiterklasse. Durch Solidarität erst konnte ein Klassenbewusstsein entstehen, ein neues Kollektiv, was zentral war für das Erkämpfen besserer Lebensumstände für die Lohnarbeitenden. Klasse ist kein familiäres oder emotionales Verhältnis, sondern ein politisches: über die Klassenzugehörigkeit entscheidet nicht der Zufall des Geburtsortes, die Augen- oder Hautfarbe, sondern allein die Tatsache, dass wir gezwungen sind, unsere Arbeitskraft zu verkaufen. Mit anderen Worten „Proletarier_innen aller Welt – vereinigt euch“. Diese Idee hatte immense Sprengkraft und sorgte dafür, dass die Kämpfe in Chicago auf dem Haymarket um die Welt gingen. Die Arbeiter_innen in Österreich, Frankreich und sonstwo zettelten Demonstrationen, Streiks und Kundgebungen an, in Solidarität mit den Geschehnissen in Amerika. Mit Erfolg – gute 30 Jahre später war der 8-Stunden Tag in vielen Industrie-Ländern Europas gesetzlich festgeschrieben.

Heute leben wir glücklicherweise in paradiesischen Zeiten, in denen das Max-Planck-Institut, die CDU, Der Freiburger Stadtrat oder die AfD sich mit allem Möglichen solidarisch erklären. Das Problem dabei: ihre Solidarität grenzt aus. Die AfD begrenzt ihre Solidarität natürlich auf Biodeutsche Hetero-Konservative und das Max-Planck überlegt laut, ob mensch mehr dem Einzelnen oder mehr der Gesellschaft verpflichtet ist. Die CDU – oder auch die SPD schießen jedoch den Vogel ab: SPD und CDU erklären ein solidarisches Europa mit der einen Hand, während sie mit der anderen Geflüchtete im Mittelmeer ertrinken lässt und diejenigen, die gerettet werden in Länder wie Afghanistan abschiebt – ganz zu schweigen von der Errichtung eines Grenzregimes, das Sklavenhandel und andere Gräueltaten toleriert.

Wenn das ein solidarisches Europa sein soll, hat Solidarität an Bedeutung verloren? Macht es überhaupt noch Sinn sich auf den Begriff zu beziehen, der so beliebig eingesetzt wird und auf hölzernen Beinen daherkommt?

Ja, es macht Sinn! Auch wenn es abgedroschen klingt, Solidarität ist eine Waffe und sie ist wichtiger denn je. Solidarität bedeutet politische Kämpfe ernst zu nehmen und sie als verknüpft zu begreifen. Das heißt, dass die Streiks indischer Fabrikarbeiter_innen genauso wichtig sind, wie die Proteste der Einwohner_innen im Metzgergrün oder die Friday for Future-Demonstrationen der Schüler_innen. Ob jetzt zu hohe Mieten, Klimawandel oder Ausbeutung bekämpft werden, ist dabei nicht als Trennung der Kämpfe, sondern als jeweilige Ausformung zu begreifen. Was die Kämpfe vereint ist die emanzipatorische Ausrichtung, also der Kampf gegen gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse. Ähnlich verhält es sich mit antirassistischen oder feministischen Kämpfen. Mensch muss nicht jede Form von Unterdrückung und Ausgrenzung selbst erlebt haben, um davon betroffen zu sein. Solidarität heißt, die Kämpfe anderer Menschen ernst zu nehmen. Auch als colored Cis-Frau kann mensch solidarisch mit Transpersonen sein – auch als weißer schwuler Mann kann mensch für die Rechte von Jesidinnen eintreten. Identitätspolitiken legen uns manchmal nahe, dass es bei Kämpfen vor allem um die eigene Betroffenheit geht, dass die eigene Betroffenheit die Kämpfe erst legitimieren muss. Betroffenheit ist natürlich ein starker Motor für politische Aktion, darf aber nicht ihre Bedingung sein! Solidarität heißt, die Unterdrückung und Ausbeutung anderer ernst zu nehmen – nicht aus Mitleid, sondern durch das politische Verständnis der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Empfänger_innen von Solidarität sind im Sinne der Kampf-Solidarität keine Bittsteller_innen, die letztlich ganz von der Willkür der Gebenden abhängig sind, sondern eigenständige, mündige Anspruchsberechtigte.

Solidarität heißt aber auch die eigene Situation zu politisieren: wie ist mein eigenes Arbeitsverhältnis? Werden meine Rechte eingehalten? Oftmals kämpfen die Menschen gerne auf den Baustellen anderer und übersehen, dass sie in ihrem Studijob oder Minijob selbst ausgebeutet werden. Die Arbeitsverhältnisse, die ich akzeptiere, schaffen die Arbeitsverhältnisse meiner Kolleg_innen! Wenn ich den Job für acht Euro die Stunde mache, warum sollte meine Chefin der nächsten Person zehn Euro dafür geben? Ein „mir geht es doch gut, ich brauche keine 10 Euro die Stunde“ ist nicht bescheiden – sondern unsolidarisch!

Wir dürfen auch nicht erst kämpfen, wenn es uns schlecht geht – es geht nicht um die Erhaltung gewisser Verhältnisse, sondern darum, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein geknechtetes Wesen ist. Das heißt, unser Projekt sollte nicht ein netterer Kapitalismus sein, sondern dessen Überwindung! Und genau deshalb brauchen wir Solidarität als Klammer. Nicht nur als Gefühl der Brüder- oder Schwesterlichkeit, sondern als rationale Strategie gegen die Ausbeutung. In diesem Sinne ist Solidarität noch immer unsere schärfste Waffe im Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung und das schwerste Gegengewicht zu den Kapitalinteressen!

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