Thesen zu "Industrie 4.0"
04.02.2020
Die Automobilindustrie erfährt gegenwärtig einen massiven Wandel. Die größten Konzerne, wie VW, haben zum ersten Mal seit Jahren sinkende Verkaufszahlen; die Luxusmarke Audi versucht die Produktion, wo es geht, zu drosseln und etliche Zulieferer mussten mittlerweile ihre Beschäftigten entlassen – oder gingen insolvent. Sinkende Verkaufszahlen, der Diesel-Skandal, aber auch die Verschärfung des Klimawandels zwingen die Branche zum Umdenken, sowohl darüber, wie produziert wird, als auch was.
Jeder relevante Automobilkonzern verkündete im Zuge dieses Einschnitts neue Strategien, um diesen Anforderungen erfolgreich begegnen zu können. Ihre Antwort bestand in der Regel in einer Offensive in der Elektromobilität sowie in der digitalen Weiterentwicklung der Produktion und Logistik. Gerade diese digitale Entwicklungen in der Produktion und Logistik werden zur Zeit forciert; indes haben sie in Deutschland schon 2010 öffentlichkeitswirksam unter dem Label „Industrie 4.0“ begonnen.
Die Transformationen greifen aber weit über die Branche hinaus. Gemessen an den Beschäftigungszahlen, Umsätzen, ihrem Einfluss und ihre Verwobenheit mit anderen Sektoren, ist die Automobilindustrie weltweit die wichtigste Industriebranche. Insofern haben die Veränderungen in der Produktion und Logistik hier eine Vorbildfunktion für andere Industriezweige – was in der Automobilindustrie heute umgesetzt wird, ist generell der Standard der Industrie von morgen.
Vor diesem Hintergrund sehen wir eine Notwendigkeit, sich mit der veränderten Klassenzusammensetzung in der digitalisierten Automobilindustrie auseinanderzusetzen. Wir haben dazu in einem Automobilwerk mit den Beschäftigten Interviews geführt, diese ausgewertet und waren ebenso mehrmals vor Ort.
Es ist einerseits das Ziel der folgenden Thesen, zu verstehen, was das Programm „Industrie 4.0“ bedeutet, welche Konsequenzen sich für die Beschäftigten ergeben und schließlich, welche nationalen und globalen Auswirkungen mit dieser Produktivkraftentwicklung verbunden sind. Andererseits hoffen wir, mit den gewonnenen Erkenntnissen die Beschäftigen und ihre Betriebsräte unterstützen zu können und mögliche Strategien im Umgang mit „Industrie 4.0“-Innovationen aufzuzeigen.
These 1: „Industrie 4.0“ wurde als Label eines Zusammenschlusses von Akteuren der deutschen Industrie, Wissenschaft und Politik geschaffen, um den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken.
Bei WirtschaftspolitikerInnen, -journalistInnen und Kapitalverbänden gilt alles, was mit Internet und Digitalisierung zu tun hat schon seit langer Zeit als das 'große Ding', das die Verwertungskrisen des Kapitals überwinden und einen neuen Wachstumszyklus in Gang setzen könnte. Doch im internationalen Wettbewerb steht Deutschland hintenan. Gegen die Konzerne aus den USA und China, die die Top-20-Plätze der weltgrößten Internetkonzerne unter sich aufteilen, hat die deutsche Konkurrenz keine Chance. Was ist Zalando schon gegen Amazon? Und was die „Smart City“ Bergisch Gladbach gegen das Silicon Valley?
Nachdem zuvor auch eine europäische Digitalisierungsstrategie, die vor allem auf Internetdienstleistungen gesetzt hatte, gescheitert war, gab es ab 2010 einen Umschwung in Richtung einer Digitalisierung der Industrie. Da in Deutschland ein großer Teil des Mehrwerts in der Industrie produziert wird, versprach man sich hier einen internationalen Wettbewerbsvorteil. Während die Innovationen der US-amerikanischen Internetkonzerne vor allem Risikokapital-getrieben ist, werden die Innovationen der „Industrie 4.0“ vor allem vom Deutschen Staat gefördert. So werden beispielsweise Digitalisierungsprojekte in deutschen Industrieunternehmen von der Bundesregierung aus Mitteln des BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung) finanziell unterstützt. Um den Deutschlandbezug zu unterstreichen, bestanden die ErfinderInnen der Marke auch im internationalen Diskurs auf die Endung -ie. So entstand ein nationales Label, ähnlich wie „Made in Germany“. Bei der „Industrie 4.0“ handelt es sich folglich weniger um die Beschreibung einer rein technologischen Entwicklung, als vielmehr um eine Mischung aus PR-Maßnahme und Entwicklungsprogramm zur Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland.
These 2: "Industrie 4.0" beschreibt zwar durchaus eine reale Produktivkraftentwicklung, keineswegs aber eine '4. Revolution'.
Trotz ihres ideologischen Werbecharakters lässt sich die Bezeichnung „Industrie 4.0“ auch auf ein Bündel von Technologien beziehen, die der Überwachung und Kontrolle des Produktionsprozesses und der digitalen Vernetzung der Produktionsmittel dienen. „Industrie 4.0“ ist weniger in der Automatisierungstechnik als vielmehr in der digitalen Prozesssteuerung zu verorten. Hierbei ist das Ziel, die verschiedenen Ebenen der Produktionssteuerung zu vernetzen – von der unternehmensweiten Ressourcenplanung (SAP) bis zur Steuerung individueller Arbeitsprozesse. Damit wird an die Betriebsführungsstrategie der Lean Production [1] angeknüpft, deren Hauptziele die Vermeidung von sogenannter „Totzeit“ (sprich: Zeitverschwendung) sowie die Erhöhung der Ressourceneffizienz sind. Damit soll das Just-in-Time bzw. Just-in-Sequence-Prinzip [2] radikalisiert werden, da immer nachverfolgt werden kann, wo sich ein Produkt, die ArbeiterIn oder das Produktionsmittel gerade befindet. Insofern ist es mit Blick auf „Industrie 4.0“ falsch, von einer vierten industriellen Revolution zu sprechen. Industrie 4.0 ist vielmehr Ausbau und Radikalisierung der Prinzipien der Lean Production. Der technisch scheinbar „revolutionäre“ Charakter der „Industrie 4.0“ ist der Wettbewerbs- und Standort-Rhetorik im Zusammenhang mit der Etablierung eines deutschen Wirtschaftslabels zuzuschreiben (vgl. These 1).
These 3: Für die ArbeiterInnen bedeutet Industrie 4.0 zusätzliche Kontrolle und Arbeitsverdichtung.
Durch die Digitalisierung ist es möglich, alle Produktionsmittel mit digitaler Sensorik auszustatten. Dadurch können die einzelnen Arbeitsschritte permanent überwacht werden, ohne dass es der persönlichen Kontrolle durch eineN VorgesetzteN bedarf. Zwar erklärt ein von uns interviewter Betriebsrat, dass die Daten nicht zur individuellen Überwachung genutzt würden, allerdings trauen die ArbeiterInnen diesen Zusicherungen nicht. Früher wurde in der Qualitätskontrolle beispielsweise mit Wagenprüfkarten gearbeitet, in die manuell Mängel eingetragen wurden. Heute laufen diese Eintragungen über ein elektronisches Gerät. Ein interviewter Arbeiter äußert dazu: „Es gehört nicht viel Fantasie dazu, dass du anhand der Eintragungen ablesen könntest, wann hat der 'ne Viertelstunde mal nichts eingetragen. Schon allein dieser Fantasie wegen überlegt man sich, ob man sich das leisten kann." Zusätzlich werden die Arbeitsschritte in tayloristischer Manier immer kürzer getaktet. Ein Logistikarbeiter erzählt von den Folgen der teils BigData-gestützten Zeitauswertung: „Der Mitarbeiter hat keine fünf Minuten Zeit auf's Klo zu gehn. Es sind nur 1,5 Minuten für Toilette eingeplant. Jetzt mal blöd formuliert, dann gibt's abends Spaghetti aglio olio und der muss kacken gehen - dafür hat er keine Zeit, das geht nicht.“ Für den Bereich der Instandhaltung berichtet ein Arbeiter, dass die letzten technischen Entwicklungen mehr Arbeitsdruck bedeuten: „Die Technik wächst, die Crew halt nicht und es wird immer mehr.“
These 4: „Industrie 4.0“ befeuert eine zunehmende Polarisierung innerhalb der Belegschaft.
Ähnlich wie bei bisherigen Automatisierungsschüben in der Produktion werden Qualifikationen von FacharbeiterInnen durch digitale Assistenzsysteme entwertet: „Wenn du heute Montagetische kreieren kannst, wo auf der Oberfläche der Tischplatte angezeigt wird: greif in das Kästchen links, hole die Schrauben raus und dann blinkt ein Pfeil, wo du die anzusetzen hast - was ist dann diese Tätigkeit noch wert?“ Angeeignetes Erfahrungswissen wird ebenfalls entwertet, weil die Vorgaben digitaler Steuerungsprogramme wider besseren Wissens der ArbeiterInnen befolgt werden müssen: „Intuitiv sagt der Logistiker: ich nehm' die sechs wichtigsten [Teile] mit, die am schnellsten leer werden [...]. Darf er aber nicht mehr, weil er es jetzt in der Reihenfolge mitnehmen muss, wie es leer geworden ist.“ Wie ein Instandhalter erzählt, wird Erfahrungswissen durch technische Neuerungen auch teilweise unbrauchbar und kann nicht ohne weiteres durch Fortbildungen aktualisiert werden: „Wir dürfen uns eigentlich gar nicht mehr Facharbeiter schimpfen, weil wir's einfach gar nicht mehr verstehen. [...] Du wirst auf Schulungen geschickt, aber Praxis und Theorie, da wären wir wieder.“ Im Zuge von „Industrie 4.0“ kommt es also zu einem Deskilling [3], indem Qualifikationen und Erfahrungswissen entwertet oder obsolet werden. Dies betrifft vor allem FacharbeiterInnen, die oft nur noch eine ausführende Funktion zu erfüllen haben. Ziel dieser Maßnahmen ist zum einen die Reduzierung von Lohnkosten durch das Ersetzen von Facharbeit durch ungelernte Arbeit. Zugleich wird die Abhängigkeit des Produktionsprozesses vom spezifischen Produktionswissen der ArbeiterInnen, und damit auch die Macht der ArbeiterInnen reduziert.
Andererseits gibt es einen Zuwachs an Stellen in den Planungs-, Steuerungs- und Führungsebenen, in denen IT-Kenntnisse immer wichtiger werden und so eine Aufwertung erhalten. Ein Instandhalter berichtet: „Ich kann drei Wochen davor sitzen und versteh's einfach nicht. Weil so Anlagen bauen Leute auf, die [...] Programmierer, die [...] träumen Null und Eins.“ Während also FacharbeiterInnen in der Produktion Deskilling-Prozessen unterworfen werden, findet gleichzeitig ein Stellenausbau in der Planung und Steuerung statt. Der Polarisierung der Tätigkeiten entspricht eine Polarisierung innerhalb der Belegschaft.
These 5: Die „Industrie 4.0“ löst ihr Versprechen einer höheren Mitbestimmung durch die Beschäftigten nicht ein.
Teil der „Industrie 4.0“-Propaganda ist, dass durch Digitalisierung eine „liquid democracy“ Einzug in die Betriebe hält und dass Arbeit zunehmend „selbstorganisiert“ abläuft.1 In dem von uns untersuchten Großbetrieb scheint jedoch das Gegenteil der Fall zu sein. Auf der institutionellen Ebene der Gestaltung des Produktionsablaufs werden die technologischen Neuerungen in der Produktion durch ein ExpertInnen-Gremium bestimmt und als unvermeidlich betrachtet. Der interviewte Betriebsrat berichtet: „Da gibt es ca. zehn Leute, die diese Veränderung bewusst wahrnehmen und begleiten [...] Die sind vom Gedanken getrieben, dass man nicht verhindern kann, was passiert, sondern dass man es gestalten muss.“ Die beschlossenen Neuerungen müssen dann ohne Mitspracherecht in der Arbeitspraxis umgesetzt werden: „Also die [obersten Etagen] wollen das halt, aber kennen den Umfang dazu nicht wirklich. Und egal wie, geht's halt an den nächsten drunter. Du musst das umsetzen. Wir sind am Ende der Kette.“ Auf der Werks-Ebene wird detailliert von der digitalen Prozesssteuerung vorgegeben, was zu tun ist. Aus der Logistik wurde uns berichtet: „Der Logistiker sucht sich nicht mehr selber, wo ist was leer, sondern der Computer sagt ihm 'hier ist was leer, fahr da hin' und plant so die Touren des Logistikers.“ Anfangs, so erklärt man uns, hätten die LogistikerInnen die Anweisungen des Computers ignoriert. Da ihr Navigationsgerät aber auch ihre Position erfasst, fiel das sofort auf und führte zu Ermahnungen. Mittlerweile herrscht Resignation: „Nee, ihr könnt mich mal am Arsch lecken. Wenn ihr nicht wollt, dass ich aktiv mitdenke, dann lass ich's gut sein!“ Von einer erhöhten Mitbestimmung im Arbeitsprozess kann also keine Rede sein. Ohne Mitspracherecht der Beschäftigten wird vorgegeben, welche Technologien wie im Produktionsprozess eingesetzt werden und digitale Assistenzsysteme geben wiederum die konkreten Arbeitsschritte vor. Zwar gibt es ein internes Feedbacksystem (Stimmungsbarometer, Verbesserungsvorschläge), insgesamt lässt sich aber von einer Entmündigung sprechen. Die ArbeiterInnen werden vom Anhängsel der Maschinen zu DienerInnen der Maschinen, die ihnen Befehle erteilen.
These 6: In Bezug auf „Industrie 4.0“-Neuerungen lässt sich Misstrauen der Arbeiter_innen gegenüber der Führungs-, Planungs- und Steuerungsebene feststellen.
Im Arbeitsablauf der „Industrie 4.0“ werden massiv Daten erfasst und gesammelt, von digitalen Schraub- und Montagehilfen, über Verbrauchsinformationen, bis hin zu Bewegungsprofilen der Beschäftigten. Dadurch, dass tendenziell jeder Arbeitsschritt für das Unternehmen transparent wird, entsteht ein Klima der Kontrolle, dem sich die ArbeiterInnen nur schwer entziehen können. Auch wenn von der Führungsebene kommuniziert wird, dass die gewonnenen Daten nur der Optimierung des Arbeitsablaufs dienen, herrscht ein tiefes Misstrauen gegenüber diesen Technologien.
Häufig äußern die ArbeiterInnen Unzufriedenheit gegenüber diesen Maßnahmen: „Ich muss das protokollieren: auf den Milliliter genau, mit welchem Druck und sonst was da reingelaufen ist. Also das ist krank eigentlich.“ Die technischen Verhaltens- und Arbeitsvorgaben lassen sich im Arbeitsalltag teilweise gar nicht umsetzen. Dies führt zu Frustration unter den ArbeiterInnen. Sie gewinnen den Eindruck, dass sie auf ein kaum umsetzbares Ideal eines optimierten Arbeitsablaufes verpflichtet werden, das mit der Realität des Arbeitsalltags immer weniger zu tun hat. Die ArbeiterInnen erfahren das als Entwertung ihres Fachwissens und als eine Entmachtung in ihren Handlungsmöglichkeiten: „Also insofern bin ich mit all diesen Kollaborations-Modellen die ich bisher kenne unzufrieden. Es ist überhaupt nicht meine Vorstellung von dem, dass der Mensch den Takt vorgibt.“ Ein Betriebsrat berichtete uns von einem regelmäßig durchgeführten Stimmungsbarometer, bei dem die ArbeiterInnen allerdings falsche Angaben machten. Bspw. gaben sie bezüglich des Arbeitspensums höchste Zufriedenheit an, weil sie befürchten, andere Angaben könnten gegen sie verwendet werden: „Und wenn ich jetzt mit den Kollegen darüber sprech', sagt mal, warum ist das so, warum gebt ihr alle an, dass das alles super ist? Dann sagen die, 'Ich trau' dem nicht, dass das anonym ist.'“ Seitens der ArbeiterInnenschaft werden allerdings nicht die technischen Neuerungen per se, sondern vor allem deren betriebliche Anwendung kritisiert. „Der ghört da net noh.“
These 7: Mittelfristige Folgen der Digitalisierung sind keine direkten Jobverluste, sondern eine gesteigerte Prekarisierung der Arbeit.
Auch wenn Prekarisierung und Deskilling den Kern der Digitalisierung ausmachen, konnten wir durchaus innerhalb des untersuchten Werks beobachten, wie menschliche Arbeit durch Maschinen, Automatisierung und Optimierung der Arbeitsabläufe ersetzt wird. In der Intralogistik wurden durch Tracking, Feedback und autonome Transportsysteme neue Automatisierungsmöglichkeiten geschaffen. Momentan werden in einem Hallen-Neubau nur ca. 20 Prozent der LogistikerInnen eingesetzt, wie im Vergleich zur alten Halle gleichen Typs (von 18 auf vier Beschäftigten bei doppelter Größe der neuen Halle). Die quasi fehlenden Stellen wurden von fahrerlosen Transportsystemen (FTS) übernommen. Langfristig ist davon auszugehen, dass auch die vier Logistiker_innen vollständig von FTS ersetzt werden sollen. So stellte eine interviewte Person fest: „Ja, wenn das System funktioniert, dann kommt nächstes Jahr noch so ein FTS mehr, dann kommt noch eins. Und dann hängen am Ende keine Logistiker mehr da, sondern nur noch Instandhalter mit ihren Laptops. Das ist die Gefahr. Die ist da und die ist auch jedem bewusst.“
Dennoch kann man für den einzelnen Betrieb und die gesamte deutsche Industrie kurzfristig eher davon ausgehen, dass durch Digitalisierung und weitere Automatisierung zumindest nicht direkt Arbeitsplätze wegfallen. Denn in vielen deutschen Großbetrieben wurde durch die Gewerkschaften eine Beschäftigungsgarantie bis 2025 erkämpft. In den letzten Jahren kann in Deutschland keine technologische Arbeitslosigkeit festgestellt werden (d.h. ein direkter Wegfall von Jobs durch Digitalisierung und Automatisierung). Auch für den von uns untersuchten Großbetrieb ist es schwer, generelle Aussagen über die Zukunft der Jobs zu treffen, da sie von der Kampfkraft der Belegschaft und der Gewerkschaften, aber auch von der ökonomischen, und damit auch von global-politischen Entwicklungen abhängig sind.
Obwohl also die Jobs der Beschäftigten erst mal nicht direkt bedroht sind, muss man die Digitalisierung und weitere Automatisierung als „Klassenkampf von oben“ begreifen. Der Kern dieses Angriffs auf die Beschäftigten ist vor allem das Deskilling: Indem Tätigkeiten einfacher und stupider werden, werden sie zugleich kostengünstiger. Der Einsatz von verschiedenen digitalisierten Unterstützungs- und Vorgabetechnologien in der Produktion und Logistik ersetzt in vielen Fällen Fachwissen und damit viele Ausbildungsjobs (allerdings bisher nicht die Arbeitsplätze selbst). Und auch wenn mittelfristig eher nicht mit einem direkten Arbeitsplatzverlust zu rechnen ist, so ist für alle Beschäftigte dennoch offensichtlich, dass Automatisierung und Digitalisierung viele menschliche Arbeiten überflüssig macht. Der mögliche Jobverlust schwebt also gleichwohl wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der ArbeiterInnen und führt dazu, dass sie in dieser Bedrohungslage gefügiger werden können. Die Digitalisierung verschiebt somit auch, unabhängig vom kurz- oder mittelfristigen Arbeitsplatzabbau, das Kräfteverhältnis innerhalb der Betriebe zugunsten des Kapitals.
Besonders vor dem Hintergrund, dass die deutsche Automobilbranche ihre Produktion immer stärker auf Elektroautos ausrichtet, können schlechtere Arbeitskampfbedingungen zu einer Welle von Entlassungen führen. Schließlich ist der Arbeitsaufwand für ein Elektroauto deutlich niedriger (ca. 30 Prozent) als für ein klassisches Auto mit Verbrennungsmotor. VW-Chef Herbert Diess prognostiziert, dass durch ein Verbot von Verbrennungsmotoren ab 2030 generell ca. 620.000 Jobs in Deutschland verloren gehen könnten. Es scheint also ausgemacht, dass die Automobilproduktion „schlanker“ wird. Was das aber für die Beschäftigten konkret bedeutet, muss sich in den Arbeitskämpfen entscheiden.
These 8: Die Digitalisierung verschlechtert die Bedingungen für Arbeitskämpfe.
Die digitalen Neuerungen werden vor allem zur Überwachung und Kontrolle der ArbeiterInnen eingesetzt und zerstören Räume von Kommunikation und subversivem Handeln. Eine befragte Person teilt mit, dass durch Analysen des Arbeitsprozesses selbst Verzögerungen von ein bis zwei Minuten zu Mahnungen führen können: „Du bist hier nicht da zum schwätzen, sondern zum Arbeiten.“ Kleine Pausen und Gespräche mit den KollegInnen werden so systematisch erschwert. Aber auch die konstante Angst, dass subversives oder auch nur irreguläres Verhalten mittels digitalen Technologien zurückverfolgt werden könnte, lähmt die ArbeiterInnenschaft.
Eine der zentralsten und schwerwiegendsten Konsequenzen der Digitalisierung besteht in der durch Deskilling bedingten Austauschbarkeit der ArbeiterInnen. In bestimmten Segmenten (Intralogistik, Produktion) wird das bislang essentielle Produktionswissen der ArbeiterInnen und damit ihre Produktionsmacht durch Einsatz von Sensorik, Feedbacksystemen, Speichermedien, etc. entwertet. Die damit einhergehende Austauschbarkeit der ArbeiterInnen (sowohl im Werk, als auch generell auf dem Arbeitsmarkt) schwächt ihre Position im Arbeitskampf.
These 9: Die Digitalisierung verbessert die Bedingungen für Arbeitskämpfe.
Die meisten ArbeiterInnen lassen sich nicht auf die Management-Rhetorik der digitalen Selbstorganisation bzw. Selbstoptimierung ein. Sie erkennen, dass es sich bei den Entwicklungen um Rationalisierungs- und Kontrollstrategien handelt. Nichtsdestotrotz stehen sie den Entwicklungen größtenteils mit einem Gefühl der Ohnmacht gegenüber. Das schlägt jedoch oft in Wut um; insbesondere dann, wenn durch die digitale Kontrolle die menschliche Würde verletzt wird und sich die ArbeiterInnen als zu Maschinen herabgesetzt empfinden. Das wiederum führt zu einer Zunahme von informellen Arbeitskonflikten – von einer Kultur der Insubordination bis hin zu einigen Fällen von Sabotage. In diesem Zusammenhang liefert die digitale Infrastruktur den ArbeiterInnen neue Machtressourcen. Das liegt nicht zuletzt an der besonderen Verwundbarkeit der neuen Technologien: Da die „Industrie 4.0“ im Wesentlichen die Prinzipien der Lean Production radikalisiert (vgl. These 2), treten auch deren Schwachstellen offener zutage: Gerät etwa die durch Just-in-Sequence-Techniken optimierte Zulieferkette ins Stocken, steht auch schnell die Gesamtproduktion still. Das wurde zum Beispiel beim Streik der Audi-ArbeiterInnen im ungarischen Györ sehr deutlich: Als dort im Januar 2019 eine Woche lang gestreikt wurde, stand prompt auch das Werk in Ingolstadt und später sogar auch die Werke anderer Autohersteller in ganz Süddeutschland still. Die Forderungen der ArbeiterInnen in Györ konnten vollständig durchgesetzt werden. Diese Beispiele informeller und formeller Arbeitskonflikte zeigen, dass die Bedingungen für Arbeitskämpfe nicht nur durch die technologischen Neuerungen bestimmt sind (vgl. These 7 und 8), sondern auch durch die Fähigkeit von Belegschaften und Gewerkschaften zur Mobilisierung und Entwicklung neuer Strategien für Arbeitskämpfe.
These 10: Die Digitalisierung der Industrie ist die Antwort des Kapitals auf die anhaltende Verwertungskrise. Sie könnte aber viel mehr sein…
Um die Entwicklungen rund um Digitalisierung und „Industrie 4.0“ richtig zu verstehen und auch politisch und strategisch adäquat einzuschätzen zu können, ist es hilfreich, sie in die mittel- und langfristigen ökonomisch-historischen Entwicklungstendenzen des Kapitalismus einzuordnen.
Der Hintergrund hierfür ist die verstetigte Krise des Kapitals: Seit dem Ende des Nachkriegsbooms in den 1970er-Jahren sinken die Profitraten für das überakkumulierte Kapital. Das Kapital versucht den vollen Ausbruch dieser latenten Dauerkrise seitdem durch einen massiven Angriff auf die Klasse der Lohnabhängigen vor sich her zu schieben. Bei mangelnden Anlageaussichten wird insbesondere überall versucht, das bereits eingesetzte Kapital in seinen Profiterträgen durch eine Erhöhung der Ausbeutungsrate zu stärken – etwa durch Prekarisierung und Flexibilisierung klassischer Arbeitsverhältnisse.
Zugleich ist das Kapital seit den späten 1970er Jahren massenhaft – dank staatlicher Deregulierung – in den Finanzsektor geflossen, so dass dieser mit großem Abstand die kapitalkräftigste Branche darstellt. Das hat zur Folge, dass es trotz immer neuer Nachrichten von der technischen Möglichkeit der weitgehenden Substitution menschlicher Arbeit durch Roboter im Zuge der „Industrie 4.0“ bislang nicht zu einem großen Automatisierungsschub kam.4
Bei den kontinuierlich sinkenden Wachstumsraten scheint es schlicht nicht profitabel, in immer teurer werdende neue Produktionstechnik zu investieren. Das liegt nicht nur am Preis dieser Technologien selbst, sondern vor allem daran, dass es höchst risikoreich scheint, Kapital permanent in Form von industrieller Infrastruktur zu fixieren. Denn die niedrigen Wachstumsraten machen auch die zukünftigen Produktabsatzmöglichkeiten und damit die Profitaussichten unsicher. Da scheint es lukrativer, Kapital in die Finanzmärkte zu investieren, aus denen es im Krisenfall schnell wieder abgezogen werden kann.
Damit bleiben größere Produktivitätssteigerungen in der Industrie aus, was bedeutet, dass entweder die Profite sinken oder die Arbeit noch weiter ausgebeutet werden muss. Mit der Digitalisierung geschieht letzteres [5]. Erstens ermöglicht sie, wie wir in These vier gesehen haben, eine Dequalifizierung und damit Verbilligung der Arbeit (was den Vergleichsrahmen für die Kosten der Robotik darstellt). Zweitens wird sie, wie wir in der dritten These gesehen haben, zur Verdichtung der Arbeit genutzt und reduziert damit die Menge der notwendigen Arbeitskräfte. Drittens ermöglicht sie eine Prekarisierung der Beschäftigten und damit einen flexiblen Arbeitskrafteinsatz, den Roboter nicht bieten. Bei der Arbeitsverdichtung bzw. -intensivierung wird die Arbeit nicht im strengen Sinne produktiver, d.h. das Verhältnis von aufgewendetem Arbeitsvolumen und Anzahl der mit diesem Arbeitsvolumen produzierten Güter bleibt gleich. Vielmehr zielt die Arbeitsverdichtung darauf, dass innerhalb derselben Zeit ein größeres Arbeitsvolumen verrichtet werden kann, indem ‚tote Zeit‘, in der eigentlich keine Arbeit stattfindet, eliminiert wird. Die Anzahl der in derselben Zeit der Arbeit produzierten Güter steigt zwar an, aber nicht, weil die Arbeit selbst durch neue Produktionsmittel produktiver geworden ist, sondern schlicht, weil in derselben Zeit mehr menschliche Arbeit geleistet wird [6].
Investitionen in Rationalisierungsmaßnahmen sind insgesamt deutlich billiger als in Automatisierung und durch die Digitalisierung öffnen sich ihnen neue Spielräume, wie unsere Untersuchung zeigt. Durch die Arbeitsverdichtung wird zwar mehr Mehrwert produziert, doch da die Löhne keineswegs proportional zum Grad der Arbeitsverdichtung gestiegen sind, erhöht sich der Ausbeutungsgrad. Die Arbeit wird damit noch stärker unter ihrem Wert entlohnt.
Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass durch die Digitalisierung in der Produktion – besonders der Automobilindustrie – es allem Anschein nach nicht zu einer erhöhten organischen Zusammensetzung des Kapitals [7] kommt, sondern sich vielmehr durch Arbeitsverdichtung der Faktor der menschlichen Arbeit erhöht.
Insofern verschärft die Digitalisierung selbst den weiteren tendenziellen Fall der Profitrate weniger als erwartet. Die Krise wird also auf Kosten der Arbeit weiter hinausgezögert. Indem die Digitalisierung die Produktion technologisch erheblich rationalisiert und optimiert, lassen sich sowohl die Arbeitskosten als auch die Verhandlungsstärke der Gewerkschaften senken und die Kampfkraft der Beschäftigten schwächen. Mit der Digitalisierung wird daher in erster Linie die Strategie fortgesetzt, die Ausbeutungsrate zu intensivieren – womit auch der Konkurrenzdruck unter den Einzelkapitalen zunehmen dürfte.
Diese Anstrengungen schieben die Krise somit zwar auf, können sie aber nicht lösen. Immer wieder bricht sie sektoral oder lokal auf, jedes Mal mit der Gefahr sich zu verallgemeinern, wie zuletzt mit der globalen Krise von 2007/2008. Seitdem steht das Kapital noch mehr unter Druck, neue Verwertungsmöglichkeiten zu erschließen; vor allem, weil das neoliberale Modell im Zuge der teilweise enormen gesellschaftlichen Zumutungen und Verwerfungen in der Folge der Krise von 2007/2008 und den zunehmenden sozialen Ungleichheiten politisch verstärkt in Frage gestellt wird.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der Staat eine stärkere Rolle bei der Gestaltung der Kapitalakkumulation spielt. Zwar ist das Modell des „investiven Staates“, der gezielt in Entwicklungen für die heimische Industrie investiert, in Deutschland kein Novum, doch es scheint, dass mit den Förderprogrammen zur „Industrie 4.0“ und der zunehmenden Bedeutung staatlich finanzierter Entwicklungsdienstleistungen (etwa durch die Fraunhofer Institute) eine neue Qualität erreicht wurde. Als Reaktion auf die Überakkumulationskrise und der damit verschärften Konkurrenz greift der deutsche Staat in keynesianischer Manier auf Seiten des Kapitals ein – anstatt wie sonst im Keynesianismus üblich auf Seiten der Arbeit durch Sozialausgaben, etc. – und erhofft sich eine Stärkung des nationalen Wirtschaftsstandorts.
Fazit:
Die Digitalisierung provoziert immer wieder naive bürgerliche Prophezeiungen einer vierten industriellen Revolution, einer liquid democracy mit mehr Partizipation oder auch einem „Ende der Arbeit“ [8]. Sie erweisen sich jedoch empirisch als platte Ideologie. Der Kern der Digitalisierung besteht nicht in der Revolutionierung der Industrie, sondern der Kontrolle, nicht in der Demokratisierung, sondern Unterwerfung und schließlich nicht in der Entlassung, sondern verschärften Ausbeutung der Lohnabhängigen.
Anders als oftmals erwartet setzt sie unter den herrschenden Verhältnissen gerade keinen neuen Automatisierungsschub frei, sondern konstituiert vielmehr ein neues Herrschaftsregime in der Fabrik. Diese reelle Subsumtion der Arbeit unter der Ägide des Kapitals mit nunmehr digitalen Mitteln nimmt stetig autoritärer Züge an: Die Implementierung digitaler Technik wird als unausweichlich und alternativlos von den Management-Etagen durchgedrückt, so dass die Arbeit entqualifiziert, entwertet und verstumpft; zugleich wird die Belastung erhöht und Pausen und Freiräume eingeschränkt. Um dies zu gewährleisten wird die Kontrolle über die Arbeit intensiviert. Obwohl durch Digitalisierung Arbeit wirklich erleichtert und vielerorts auch einfach ersetzt und der Produktionsprozess demokratisiert werden könnte, entfaltet sie unter den spätkapitalistischen Bedingungen niedriger Profitraten und einer Überakkumulation des Kapitals vor allem ihre destruktiven und autoritären Potentiale zu Lasten der ArbeiterInnen. Digitalisierung ist im Kapitalismus vor allem Klassenkampf von Oben.
Und darin sind sich Kapital und Staat einig: der Klassenkampf von Oben lässt sich gemeinsam am besten führen. Während der Staat durch Investitionsprogramme, Ausschreibungen und technologische Innovationen dem Kapital bei der Entwicklung und Implementierung des neuen digitalen Fabrikregimes gehörig unter die Arme greift, dankt es das Kapital mit prekären Arbeitsplätzen für die StaatsbürgerInnen und Steuereinnahmen. Und des Weiteren gilt: wo die Arbeit prekär und die Arbeitsbedingungen autoritärer werden, braucht es auch einen autoritäreren Staat, um den „sozialen Frieden“ zu gewährleisten. Insofern reiht sich die Digitalisierung der Industrie in die allgemeine globale Verschärfung bürgerlicher Herrschaft ein.
Doch zugleich besitzt die Digitalisierung auch die Potentiale einer wirklich vernünftigen, an den Bedürfnissen orientierten Planwirtschaft als Basis einer rätekommunistischen Weltgesellschaft. Die Produktionsverhältnisse stellen aber eine Fessel für diese Entwicklung der Produktivkräfte dar.
[1] Lean Production bedeutet so viel wie "schlanke Produktion" und bezeichnet eine Produktionsorganisation, deren Hauptziel darin besteht, Ressourcen-Verschwendung in allen Bereichen der Produktion zu vermeiden. Zentral ist dabei das sogenannte "Pull-Prinzip": Die ganze Produktion soll sich strikt am Kundenauftrag orientieren, der bspw. die Logistik gemäß seinen aktuellen Notwendigkeiten "hinter sich herzieht" und somit den Steuerungsaufwand oder die ungenutzten Bestände minimiert. z.B.: Sattelberger, T., Welpe, I., & Boes, A. (2015). Das demokratische Unternehmen: Neue Arbeits- und Führungskulturen im Zeitalter digitaler Wirtschaft. Freiburg, München: Haufe Lexware.
[2] Just-in-Time-Produktion bedeutet, dass Arbeitsmaterial und Produkte nur zu der Zeit und in der Quantität produziert werden sollen, wie es der gegenwärtigen Auftragslage entspricht. Just-in-Sequence radikalisiert dieses Konzept und reagiert auf eine zunehmend individualisierte Produktion in der Automobilindustrie, in der die hochgradig variierenden Einzelteile exakt zur entsprechenden Montagesequenz angeliefert werden müssen.
[3] Deskilling bedeutet, dass Tätigkeiten zunehmend von ungelernten ArbeiterInnen ausgeführt werden können, für die es ehemals einer Ausbildung bedurfte. Die ungelernten ArbeiterInnen sind kostengünstiger und austauschbar, was für die Kampf- und Organisationsfähigkeit tendenziell ein Problem sein kann.
[4] Als Indikator für neue Investitionen ist die Bruttoinvestitionsquote aussagekräftig. Sie setzt sich dem Verhältnis der Bruttoinvestitionen zu dem BIP zusammen. Sowohl in Deutschland als auch global ist sie im Sinken begriffen. Während sie zwischen 1960 und 1974 stark anstieg, sinkt sie seitdem in der Tendenz beständig, vor allem in den OECD-Staaten, aber auch global. Auch wenn seit 2012 ein kleiner Anstieg in Deutschland auszumachen ist, so ist dieser zu schwach um eine neue „vierte industrielle Revolution“ zu begründen.
[5] Dies weist Moody empirisch nach: Kim Moody: Schnelle Technologie, langsames Wachstum. Roboter und die Zukunft der Arbeit, in: Butollo/Nuss: Marx und die Roboter. Vernetzte Produktion, künstliche Intelligenz und lebendige Arbeit, Berlin 2019, S.132-154. So wie auch in These 2 und 3
[6] Vgl. MEW 23, S.547f.
[7] Organische Zusammensetzung des Kapitals beschreibt das Verhältnis von menschlicher Arbeitskraft und maschineller Arbeit in der Produktion. Von einer erhöhten organischen Zusammensetzung spricht man, wenn sich der Anteil der Maschinen (das sogenannte konstante Kapital c) erhöht.
[8] Rifkin, Jeremy: Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft. Frankfurt a.M. 1995.
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