„Die Arbeiter haben kein Vaterland“ (Karl Marx)
Über Arbeitsfetischismus, Nationalismus und Emanzipation
Der Begriff mag altmodisch klingen, doch es existiert noch immer: das Proletariat. Es gibt sie noch, jene Klasse der Gesellschaft, die nichts besitzt außer ihrer Arbeitskraft, welche sie Tag für Tag verkaufen muss, um sich vom dabei erzielten Lohn am Leben erhalten zu können. Das Proletariat existiert in Deutschland genauso wie in allen anderen Staaten, in denen Lohnarbeit und Warenproduktion, sowie, daraus resultierend, die Teilung der Gesellschaft in Klassen existiert, das heißt: auf dem gesamten Globus. Aber mit dem entsprechenden Klassenbewusstsein ist es fast überall nicht weit her — hierzulande am wenigsten. Trotz des immer offener geführten Klassenkampfs von oben, trotz Sozialabbau, Arbeitszwang und Massenentlassungen, trotz Arbeitszeiterhöhungen und was sonst noch alles kommen mag: „vereinigen“ wollen die ProletarierInnen sich nicht, und mit ihren LeidensgenossInnen aus anderen Ländern erst recht nicht.
Wenn in Deutschland das Proletariat auf die Straße geht — wie kürzlich bei den „Montagsdemonstrationen“ oder den „wilden Streiks“ bei Opel — stellt es seine objektive Lage nicht etwa in Frage und kämpft grundsätzlich gegen seine alltägliche Ausbeutung am Arbeitsplatz, sondern es wünscht sich zurück in jene goldene Wirtschaftswunder-Zeit, als die Ausbeutung noch „menschlich“ war und der Kapitalismus scheinbar „sozial“. Das Modell der „Sozialpartnerschaft“ zwischen Beschäftigten und Unternehmensführung, nichts anderes als ein zeitweilig geglückter Versuch, die objektiven Interessengegensätze zwischen Bevölkerung und Kapital durch allgemeinen Wohlstand zu befrieden und scheinbar abzuschaffen — dieses in Krisenzeiten längst überholte Modell des „rheinischen Kapitalismus“ dient auch heute noch einigen als Vorbild „linker“ Politik. Nicht die Teilung in Besitzende und Nichtbesitzende, Arbeitende und Arbeiten-Lassende, nicht der untrennbare Zusammenhang von steigendem Profit und sich verschlechternden Arbeitsbedingungen, Überproduktion und Armut, Arbeitszeitverlängerung und Arbeitslosigkeit — nicht dieser fundamentale Skandal der kapitalistischen Vergesellschaftung selbst soll angegriffen werden, sondern nur seine gegenwärtige Erscheinungsform, die doch ohne ihre ökonomisch-politischen Grundlagen gar nicht denkbar ist.
Es scheint fast so, als ginge es den Protestierenden um nichts anderes als darum, auf keinen Fall aus dem Verwertungszusammenhang herauszufallen; als ginge es ihnen gerade darum, arbeiten zu dürfen und im Zweifelsfall nur möglichst „sozialverträglich“ aus ihren sozialen Zusammenhängen herauskatapultiert zu werden. Um nicht von schöpferischer Untätigkeit bedroht zu werden, bieten die noch Arbeitenden sogar bereitwillig an, auf Teile ihres Lohns zu verzichten — als wäre Lohnarbeit ein Selbstzweck und das Bedienen von Maschinen im Takt der Stechuhr ein Privileg, für das kein Preis zu hoch und kein Lohn zu niedrig ist.
Wie wenig die direkt (d.h. beschäftigten) oder indirekt (d.h. arbeitslosen) Lohnabhängigen in Deutschland fähig und willens sind, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Karl Marx), machen die Slogans deutlich, die auf etwa auf den Montagsdemos 2004 auf Plakaten zu lesen waren. Da stand zum Beispiel: „MENSCHEN WÜRDE(N) ARBEIT(EN)“. - Was soll das heißen? Hat Lohnarbeit, außer dass sie sie mit Füßen tritt, irgendetwas mit Würde zu tun? Definiert sich die menschliche Würde — was auch immer diese eigentlich sein mag — über Besitz oder Fehlen eines Jobs? Die entfremdete Lohnarbeit — d.h.: Produkte herzustellen, die den Herstellenden selbst nicht gehören und die ihnen für teures Geld wieder verkauft werden - das Herumstehen in der Fabrikhalle, im Großraumbüro und im Call-Center — das ist heute, nach 300 Jahren Aufklärung, der neue Ort der menschlichen Würde?
Nichts anderes kann gemeint sein. Und mehr noch schwingt in diesem Slogan mit: „Menschen würden arbeiten, wenn...“ — wenn was? Die realistische Antwort würde lauten: wenn da nicht der Kapitalismus wäre, dessen Prinzip es ist, dass Arbeit sich für das Kapital rentieren muss, was im Zeitalter der Maschinen bekanntlich nicht durchweg der Fall ist. Oder gar, aus linker Perspektive: Menschen würden eigentlich nicht arbeiten, wenn sie nicht dazu gezwungen wären!
Tatsächlich gemeint aber ist vielmehr der obrigkeitshörige Appell an die einzelnen UnternehmerInnen und PolitikerInnen: „Menschen würden arbeiten, wenn Ihr uns arbeiten lassen würdet!“ Letztlich zeigt sich hier also ein absurder moralischer Appell an die AkteurInnen eines Systems, in dem es von Grund auf noch nie weder moralisch noch nach dem Willen einzelner AkteurInnen zugegangen ist; ein Appell an die Macht der Autorität, sich besser um ihre Untertanen zu kümmern, und zugleich eine Anerkennung und Legitimierung eben dieser Autorität. Die Unterwerfung geht schließlich soweit, dass die Bedingungen der eingeforderten Arbeit zur Nebensache werden: Flexibilisierung, unbezahlte Mehrarbeit und Lohnsenkungen sind allesamt akzeptabel, um dem Zustand der Arbeitslosigkeit zu entgehen. Denn Arbeitslosigkeit wird in dieser Logik — weil Arbeit eben Würde ist — als soziale Stigmatisierung und Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen Leben erfahren anstatt als Freiheit von Ausbeutung und Entfremdung. Die Aussicht auf Ein-Euro-Sklaverei gibt zur Zeit immerhin berechtigten Anlass, Arbeitslosigkeit realistisch als Stigma zu empfinden; die Stigmatisierung der Arbeitslosigkeit selbst aber wird nicht thematisiert. Stattdessen heißt es in den Reihen der Gewerkschaftslinken ebenso wie bei der SPD und der CDU: „Sozial ist, was Arbeit schafft!“
Es ist dies die grundlegende ideologische Verkehrung des Bewusstseins über die eigene Lage, die den Kapitalismus auszeichnet: die Aufrechterhaltung der eigenen Knechtschaft wird als Eigeninteresse der Individuen wahrgenommen, das es mit allen Mitteln zu verteidigen gilt — im Zweifelsfall gegen die Herren selber. Diese ideologische Verkehrung des Bewusstseins ist freilich weder ein neues Phänomen, noch ist es ein spezifisch deutsches Phänomen. Sehr deutsch jedoch ist die besondere Art und Weise, wie sich dieses falsche Bewusstsein hierzulande zuspitzt. Denn ist es allzu abwegig, in den Ein-Euro-Jobs eine neue Form des faschistischen Arbeitsdienstes zu erkennen? Spiegelt sich in der Anbetung der Arbeit nicht jene Tradition wider, die den Dienst an der Nation über alles vernünftige Eigeninteresse stellte? War es nicht der Fetisch Arbeit, der schon einmal alle Klassengegensätze zum scheinbaren Verschwinden gebracht hat, weil plötzlich alle — Ausgebeutete und Ausbeutende — im angeblich selben deutschen Boot saßen? Was ist die Ausgrenzung und Diskriminierung Nicht-Arbeitender prinzipiell anderes als der Ausstoß der Faulen und Verräter aus der Volksgemeinschaft?
Auch der mittlerweile wieder offen auftretende Antisemitismus erscheint in dieser Logik nur konsequent: postulierte der antisemitische Wahn doch seit jeher auf die Trennung zwischen einem bösen, „raffenden“ (das heißt: faulen und „jüdischen“, fremden) Kapital und einem guten, produktiven (der Volksgemeinschaft zugehörigen, „deutschen“) Kapital; beharrte er doch seit jeher auf der typisch deutschen Trennung zwischen scheinbar „anständiger“ Arbeit im Dienste der Nation und zersetzendem „Intellektualismus“ im Dienste der bolschewistischen Zersetzung. Bis heute hat dieses Denken in weiten Teilen der Bevölkerung, und bis weit in die Linke hinein, Bestand.
In diesem „postfaschistischen“ gesellschaftlichen Klima ist es nicht verwunderlich, wenn die von der CDU kürzlich wieder einmal neu angefachte „Patriotismus-Debatte“ auf fruchtbaren Boden fiel und fällt. Aufgeschreckt durch die Landtagswahlerfolge der rechtsradikalen Parteien, die den bürgerlichen Parteien 2004 in Brandenburg und Sachsen erhebliches Wählerpotential abgegraben hatten, entdeckten Konservative ihre Vaterlandsliebe als Mittel, die auftretende Unzufriedenheit in ihrem Interesse zu kanalisieren. Sie rührten bewusst einen schwarzbraunen Kitt an, der die sich immer offener als Barbarei präsentierende Gesellschaft quer durch alle Schichten wieder zur „Nation“ zusammenpappen sollte. Ein deutliches Beispiel für diese Tendenz zeigt sich im Ausspruch des sächsischen Ministerpräsidenten Georg Milbradt (CDU): Zu den braunen Stimmengewinnen meinte dieser, dass seine Partei nun verstärkt „nationale Themen“ besetzen müsse, um wieder „an den Stammtischen“ verstanden zu werden.
Diese allzu wohlwollende Empathie gegenüber dem „Volksempfinden“ hat verschiedene Ziele und Hintergründe. Immer jedoch führt das Denken in Kategorien von „Volk“ und „Nation“, selbst wo es ganz harmlos und pazifistisch auftritt, zur Ausgrenzung all jener Menschen, die in diesen Konstrukten keinen Platz haben; immer schon lauert unter der Oberfläche nationalistischen Denkens die Möglichkeit des Pogroms: denn wo Deutsche sind, da sind immer auch Nicht-Deutsche; wo Patrioten sind, sind immer, per definitionem, auch Verräter; wo Volk ist, da sind immer auch Volksfremde.
Wenn sich auch bürgerliche PolitikerInnen (von Roland Koch bis Gerhard Schröder und Wolfgang Clement) gegenüber diesem Denken öffnen, so tun sie es vielleicht vor allem aus einem Grund: Für das Interesse des Gesamtsystems Kapitalismus ist der Nationalismus eine erfolgreiche Strategie, tatsächliche Herrschaftsverhältnisse zu verschleiern und widerständiges Denken wirksam im Keim zu ersticken. Wir sitzen ja alle, erst recht im Konkurrenzkampf gegen die Polen und die Chinesen, in einem Boot. Diese Strategie ist nicht neu; sie ist spätestens seit Bismarck und Kaiser Wilhelm fester Bestandteil rechter Regierungspolitik. Gehörten zu dieser Strategie damals jedoch, wie später im deutschen Faschismus auch, zahlreiche soziale Zugeständnisse, welche die Bevölkerung an die Obrigkeit binden sollten und linkem Widerstand den Wind aus den Segeln nehmen sollten — von Sozialleistungen bis „Kraft-durch-Freude“-Privilegien —, so hat die gegenwärtige Krise nichts weiter zu bieten als die bloß noch ideologische Verschleierung der sich verschärfenden Ausbeutung und realen Verelendung. Um so seltsamer muss es erscheinen, dass das Proletariat auch heute noch so anfällig für völkisches Denken ist und es selbst mit produziert. Der „korporative“, sozialstaatliche Kapitalismus gehört der Vergangenheit an, aber die Ideologie, die diesen begleitet, lebt fort als Relikt pseudolinker Wünsche und Hoffnungen, eine Rückkehr in die gute alte Zeit des sozialen Friedens wäre innerhalb des kapitalistischen Systems irgendwie möglich.
Tatsächlich aber zeigen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse heute unverhüllter denn seit langem. Ihnen ins Auge zu schauen heißt darum zunächst nicht mehr als: sich von der Sozialstaatspropaganda nicht einwickeln zu lassen. Denn der Sozialstaat war von vornherein nichts anderes als der Versuch des Kapitals, mögliche Revolutionen im Keim zu ersticken, indem der materielle Druck auf die Beschäftigten gemildert wurde. Wenn dieser Druck heute nicht mehr gemildert werden kann, ohne den Verwertungsinteressen des Kapitals zuwiderzulaufen, so bedeutet dies zunächst eine Chance der Bewusstwerdung, nämlich die Möglichkeit, sich der prinzipiellen Un-Möglichkeit bewusst zu werden, es könne im Kapitalismus jemals ein gutes Leben geben. Die gegenwärtige Krise ermöglicht — bei allem Leid, das sie leider erzeugt — auch die Einsicht in die fundamentalen Widersprüche eines Systems, das immer schon auf Barbarei und Ausbeutung, Entfremdung, Entwürdigung und Verelendung basiert.
Die Krise ist zugleich eine Chance, sich bewusst zu werden, dass der Hauptfeind noch immer im eigenen Land steht und dass nur die soziale Revolution, als „Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl“ (Marx), uns aus dem Elend befreien kann. Keine Obrigkeit kann uns die Aufgabe abnehmen, dem Kapitalismus sein wohlverdientes Ende zu bereiten. Keine Partei kann uns die Notwendigkeit abnehmen, uns selbst zu organisieren und die Regierung des Menschen durch den Menschen zu ersetzen durch eine Assoziation freier Individuen, in welcher der Reichtum der Einen nicht mehr das Elend der Anderen bedeutet. Eine Gesellschaft, in der die unwürdige Teilung der Menschen in Besitzende und Besessene endlich aufgehoben ist und in der es für alle Menschen heißt, unabhängig von Herkunft und Geschlecht: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“
Der erste Schritt in diese Richtung muss darin bestehen, alle bestehenden Illusionen aufzugeben, der Kapitalismus selbst könne dauerhaft die Probleme lösen, die er seit seinem Bestehen unweigerlich erzeugt. Letztlich aber ist „die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf.“ (Marx) Der Weg, diesen Zustand selbst aufzugeben, führt nur über den Zusammenschluss derer, die von den Verhältnissen betroffen sind — sei es als Arbeitende, Arbeitslose, als Studierende oder als Ausgegrenzte und Marginalisierte. Insofern sitzen wir tatsächlich alle in einem Boot. Anstatt uns gegeneinander ausspielen und spalten zu lassen in solche, die dazugehören und solche, die nicht dazugehören, müssen wir dem organisierten Klassenkampf von oben den organisierten Klassenkampf von unten entgegensetzen: den erbitterten Kampf gegen untragbare Verhältnisse — gegen das Regiertwerden, gegen das Privateigentum, gegen die Ausbeutung. Stattdessen: für die Selbstverwaltung, für das gesellschaftliche Eigentum, für die soziale Revolution!
Für den Kommunismus! Für die Anarchie!