Kehrseite der kapitalistischen Moderne - Der Islamische Staat - eine materialistische Analyse

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https://antidotezine.com/2017/06/30/mosul-what-a-waste/

Als der »Kampf um Mossul« begann, galt er vielen als Anfang vom Ende des Islamischen Staates. An der bislang größten Militäraktion gegen das »Kalifat« des IS ist eine breite Koalition von irakischen, kurdischen und türkischen Truppen beteiligt. Dass sie die Provinzhauptstadt Mossul befreien werden, scheint gewiss. Und doch glaubt niemand an ein Ende des islamistischen Terrors in der Region.
Mit dem militärischen Sieg über den IS wären zwar einige barbarische Auswüchse, aber keineswegs die Wurzeln des islamistischen Terrors verschwunden. Diese Wurzeln liegen in den Krisen- und Ausgrenzungsmechanismen der kapitalistischen Weltgesellschaft selbst. Wir sind der Ansicht, dass der IS, wie auch der Islamismus in der Region insgesamt, als eine Reaktion auf das Scheitern der kapitalistischen Modernisierung im Allgemeinen und der sogenannten »nachholenden Entwicklung« im Besonderen zu begreifen ist. Wer vom Islamismus sprechen will, darf darum auch zum Kapitalismus nicht schweigen.
Die Ausrufung des Islamischen Staates im Juni 2014 geschah nicht aus heiterem Himmel, aber das Tempo, mit der IS innerhalb kürzester Zeit immer weitere Gebiete unter seine Kontrolle brachte, überraschte viele. Verantwortlich für die schnellen Triumphe des IS war vor allem das Machtvakuum, das der Abzug der US-Truppen im Jahr 2011 hinterlassen hatte. Zuerst fiel Ramadi, dann Falludscha und schließlich Mossul, das seitdem als »Hauptstadt« des IS im Irak gilt. Mit der Eroberung dieser Millionenstadt verschaffte sich der IS nicht nur ein größeres Einflussgebiet, sondern vor allem auch Zugang zu strategisch wichtigen Ölfeldern, die in der Folgezeit eine seiner wichtigsten ökonomischen Säulen bilden sollten. Auf dem Höhepunkt seiner politischen Macht vernichtete der IS im Sommer 2015 antike Kulturgüter, versklavte Tausende von Frauen und Kindern und organisierte ihre Vergewaltigung, verübte einen Genozid an den Angehörigen der jesidischen Religion und errichtete eine grausame Terrorherrschaft. Zeitweise rückten seine Terrormilizen bis vor die irakische Hauptstadt Bagdad vor.
Wie war der Siegeszug der IS-Milizen gegen die irakische Armee möglich? Ein Teil der Antwort ist darin zu suchen, dass der irakische Staat schon damals kaum noch als Staat bezeichnet werden konnte. Bereits lange vor der IS-Offensive hatte eine Serie von Auflösungsprozessen eingesetzt. Angestoßen wurde sie durch die US-geführte Invasion der »Koalition der Willigen« im Jahr 2003. Diese führte nicht nur zur Entmachtung des bis dahin herrschenden sunnitischen Baath-Regimes unter Saddam Hussein, sondern auch zur umfassenden Umstrukturierung des Staatsapparates zu Gunsten der durch den Westen an die Macht gebrachten schiitischen Minderheit. Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit weiter Teile der Bevölkerung sowie Terroranschläge islamistischer Gruppierungen im Zuge des »irakischen Widerstands« ließen das Land bereits vor dem Abzug der US-Streitkräfte in Chaos und Bürgerkrieg versinken.
Eine erste Erklärung für die Entstehung des IS lautet vor diesem Hintergrund, dass der Sturz des Baath-Regimes zu einem Ausschluss der Sunnit_innen aus Staat und Militär führte, und dass dieser Ausschluss den Nährboden für einen Bürgerkrieg zwischen den entmachteten Sunnit_innen einerseits und den durch die USA an die Macht gebrachten Schiit_innen andererseits bildete. (ak 596) Besonders folgenreich war dabei der Zusammenschluss ehemaliger Militärs und Geheimdienstmitglieder des Baath-Regimes mit islamistischen Terrorgruppen. Vor allem die Verbindung dieser beiden Gruppen bildete den personellen Kern, um den sich der spätere Islamische Staat gruppierte. Dessen Vorgängerorganisation, Al-Qaida im Irak, gelang es, die Widerstandsbewegung zu vereinnahmen und den Konflikt radikal zu »islamisieren«.
Die strukturellen Gründe des Konflikts reichen jedoch tiefer. Die »Dschihadisierung« des Bürgerkriegs im Irak beruhte auf einer Ethnisierung und religiösen Aufladung von materiellen Widersprüchen. Der Nährboden, auf dem sich der Bürgerkrieg und der schlussendliche Zerfall des Staates ausbreiteten, ist das Ergebnis eines Scheiterns der sogenannten »nachholenden Entwicklung«, also eines Scheiterns der kapitalistischen Modernisierung.
Schon zu Zeiten Saddam Husseins gelang es trotz der Milliarden durch die reichen Ölreserven des Landes nicht, eine funktionierende heimische Industrie aufzubauen – mit Ausnahme der Petroindustrie selbst. Der Irak besitzt und besaß kein nennenswertes verarbeitendes Gewerbe als Grundlage für eine kapitalistische Modernisierung. Schlüsselindustrien wie beispielsweise Maschinenbau, Stahlerzeugung oder Chemie konnten sich nie etablieren. Im Augenblick verzeichnet einzig die Baubranche größere Wachstumsraten, die allerdings den erlittenen Kriegsschäden zu verdanken sind.
Die Gründe für dieses wirtschaftliche Scheitern sind vielfältig. Neben Korruption und hohen Militärausgaben ist zunächst das UN-Embargo von 1991 bis 2003 zu nennen, das zu einer völligen Lähmung der Wirtschaftsentwicklung führte. Mindestens ebenso wichtig allerdings war, dass es außerhalb des Iraks niemals ein wirkliches Interesse an der Entwicklung des Landes nach europäischem oder asiatischem Vorbild gab. Der Irak blieb seit den 1980er Jahren auf seine Rolle als Rohstofflieferant beschränkt. Mit dem schwelenden Konflikt im Hintergrund, einer schwächelnden Weltwirtschaft und der zerstörten Infrastruktur sieht auch die Zukunft des Landes nicht nach der Erfüllung des Versprechens der »nachholenden Entwicklung« aus.
Bis auf Weiteres befindet sich der Irak in einem Zustand völliger außenpolitischer Ohnmacht, die ihn jeder Möglichkeit einer souveränen Wirtschaftspolitik beraubt. In einem weltwirtschaftlichen Umfeld, das von der schwersten Wirtschaftskrise seit 1929 geprägt ist, besteht für ihn keine Aussicht auf Entwicklung. Denn obwohl die Zentralbanken Monat für Monat Milliarden Dollar in »die Wirtschaft pumpen«, stellt sich kein tragfähiges Wachstum ein. Die kapitalistische Krise, die seit den 1970ern schwelt und im Jahr 2008 die Weltwirtschaft an den Rand des Kollaps geführt hat, bestimmt die ökonomischen Spielräume der Nationalökonomien auch weiterhin. Da die Krise eine strukturelle Krise der Verwertung des Kapitals ist, verursacht durch die steigende organische Zusammensetzung des Kapitals, ist sie auf kapitalistischer Grundlage – zumindest ohne einen neuen Weltkrieg – nicht lösbar.
Die führenden Staaten und Staatenbündnisse sind auch deshalb gezwungen, Kriege zu führen, weil sie nach neuen Verwertungsmöglichkeiten suchen. Eines der wesentlichen Ziele des Irakkriegs im Jahr 2003 war, so haben Detlef Hartmann und Dirk Vogelskamp in ihrer Studie »Irak: Schwelle zum sozialen Weltkrieg« (2003) aufgezeigt, nicht nur der Sturz des verfeindeten Baath-Regimes, sondern auch die Öffnung des irakischen Marktes. Das westliche Kapital hoffte darauf, den Irak als neuen Absatzmarkt sowie als politische und ökonomische Zukunftsplattform inmitten einer bis dahin stagnierenden Region zu installieren. Eine Art Marshall-Plan für den Nahen Osten sollte neue Impulse zur Belebung der seit Jahrzehnten erlahmten Weltwirtschaft und zur Überwindung der Krise geben – jedoch nach neoliberalem Vorbild und damit auf Kosten der Bevölkerung und einer selbständigen Modernisierung des Landes.
So blieb der Irak seit dem Krieg dem Diktat des IWF und anderer kapitalistischer Institutionen unterworfen. Zwei wesentliche Bausteine der »Neoliberalisierung« des Iraks bildeten dabei die Reformen des Chefs der US-Zivilverwaltung, Paul Bremer, und das Reformpaket des IWF vom Sommer 2016. Die sogenannten »100 Orders« sahen die Senkung der Körperschaftssteuer auf weniger als 15 Prozent, weitgehende Privatisierungen der staatlichen Betriebe sowie die Immunität ausländischer Vertragspartner vor. Das Reformpaket des IWF nicht anzunehmen, war der Regierung im Irak angesichts der humanitären Katastrophe nicht möglich. Daher verpflichtete sie sich, die Bürokratie zu verkleinern, Staatsausgaben zu senken, den Einfluss staatlicher Banken zu schwächen und zahlreiche Staatsbetriebe zu privatisieren.
Zumindest für den Westen war diese Öffnung des irakischen Marktes ein voller Erfolg: Die Importe steigerten sich von 2,6 Milliarden Dollar im Jahr 2003 auf ganze 45 Milliarden Dollar im Sommer 2016. Für den Irak selbst bedeutete der enorme Importüberschuss hingegen eine völlige Lähmung der eigenen Produktion. Ahmed Twai vom Middle East Eye konstatiert das Ergebnis dieser Wirtschaftspolitik: »Die Erschließung des Marktes zerstörte, was von der eigenständigen Lebensfähigkeit des Irak übrig war.« Die kapitalistischen Reformen führten nicht zum einem Aufbau, sondern vielmehr zum Abbau der irakischen Wirtschaft.
Der irakische Reststaat selbst besitzt keinerlei Möglichkeiten, relevante Formen der Produktion aufzubauen. Nicht nur Industrie und Dienstleistungen, die einen hohen Ausbildungsgrad der Bevölkerung voraussetzen, auch die Landwirtschaft liegen brach. Der Großteil der Menschen bestreitet in kleinbäuerlichen Verhältnissen seinen Lebensunterhalt, sieht sich angesichts der durch den Klimawandel fortschreitenden Bodendegradation und des sich verschärfenden Wassermangels jedoch zunehmend der eigenen Lebensgrundlage beraubt.
Selbst das Öl, jahrzehntelang die zentrale Wohlstandsquelle des Irak, vermag diese Entwicklung nicht aufzuhalten. Als vom Erdölexport abhängige Ökonomie traf den Irak der Sinkflug der Ölpreise besonders schwer. Ein »Failed State« wie der Irak hat in diesem ökonomischen Umfeld und unter dem Druck der mächtigen Volkswirtschaften und ihrer ökonomischen Doktrinen keine Entwicklungsperspektive.
Der Islamische Staat stellt in dieser Situation zumindest für einige eine verlockende Antwort dar. Er präsentiert sich als radikale Alternative zur kapitalistisch-liberalen Moderne, indem er »fundamentalistisch« auf die Verunsicherungen reagiert, die mit kapitalistischen Modernisierungsprozessen und insbesondere ihrem Scheitern einhergehen. Er formuliert ein Aufstiegs- und Anerkennungsversprechen für Männer, deren sozialer Status bedroht ist. Auf der materiellen Ebene trägt er die Züge einer Cliquenherrschaft, bei der die knappen Ressourcen des Landes unter der eigenen Gruppe aufgeteilt werden, während die restlichen Bevölkerungsteile unterdrückt, ausgebeutet, terrorisiert oder gar ausgelöscht werden. Insofern ist der Islamische Staat auch nur ein Produkt der kapitalistischen Barbarei, die den Nährboden für seine religiös begründete Gewaltherrschaft bildet – und mit militärischen Mitteln allein nicht zu bekämpfen.

Der Text ist zuerst in ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis Nr. 623 erschienen.