Vorwort zu Erich Mühsam - Alle Macht den Räten
"Alle Macht den Räten" - diese Parole steht nicht nur für die russische Oktoberrevolution, sondern auch exemplarisch für jenen antiautoritären Flügel der ArbeiterInnenbewegung, der sich eine befreite Gesellschaft (und auch den Weg dorthin) niemals als Diktatur einer Partei vorstellen wollte, sondern als "Assoziation der Freien und Gleichen", frei von jeglichen Hierarchien. Ob AnarchistInnen oder RätekommunistInnen, die befreite Gesellschaft war immer mit der Idee einer Organisation derselben von unten nach oben verbunden. Entscheidungen sollen gleichberechtigt und nur von jenen getroffen werden, die wirklich betroffen sind. Die Räte, eigentlich nichts anderes als Plena und DelegiertInnentreffen, sind Strukturen, welche die Organisation des Kommunismus als "staaten- und klassenlose Weltgesellschaft" ermöglichen.
Etwas altmodisch aus heutiger Sicht erscheint, dass Mühsam die Räte als "Repräsentation der Arbeit" sieht und folglich die "Organisation [der Gesellschaft] von den Arbeitsstätten und Arbeitsbeziehungen aus" will, statt der Organisation (auch der Produktion) aus dem unmittelbaren Lebenszusammenhang heraus. Dass in den Räten (nur) die "gesamte [...] arbeitende Bevölkerung [...] zusammengeschlossen" sei, steht auch in einem gewissen Gegensatz zur Parole "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen." Immerhin weist Mühsam darauf hin, wie schwer es sein wird, die auf kapitalistische Verwertung ausgerichtete Produktion auf die Bedürnisbefriedigung umzustellen: wozu sicherlich gehören muss, diese für die einzelnen Produzenten so angenehm wie möglich zu gestalten. Arbeit, als "die Plackerei, wie die Vergangenheit sie einzig kennt" (Horkheimer) wird es so dann hoffentlich nicht mehrgeben.
Um die Umgestaltung der Produktion in einer Revolution zu ermöglichen, schlägt Mühsam vor, statistische Erhebungen über die gegenseitige Versorgung oder Rohstoffbeschaffung zu erstellen. Sicherlich kann es zu bedeutenden Problemen kommen, beispielsweise die Nahrungsmittelversorgung während der Revolution oder der Austausch zwischen Menschen in der "3. Welt" und Menschen hier. Auch hätten derartige Pläne möglicherweise eine gewisse Mobilisierungskraft bei jenen, die "das Funktionieren" einer freien Gesellschaft bezweifeln. Andererseits ist es aber unmöglich, die Bedürfnisse der Menschen einfach autoritär festzulegen, und konkrete Vorhersagen über eine befreite Gesellschaft sind durchaus fragwürdig, schließlich können "alle derartigen Versuche [...] immer nur auf die Richtung hinweisen, in der Freiheit und Sozialismus liegt."
In Russland mussten die Bolschewiken während der Oktoberrevolution die Parole "Alle Macht den Räten" aufgreifen, sie haben sie aber schnell durch ihr despotisches "Alle Macht der Partei" ersetzt. Der Aufstand der Petrograder ArbeiterInnen und der Matrosen in Kronstadt 1921 war der letzte große Versuch, die Revolution zu retten, doch er wurde von Trotzkis Truppen blutig niedergeschlagen. Heute jedoch, lange nach dem Zusammenbruch dieses staatskapitalistischen Ostens und dem daraufhin ausgerufenen "Ende der Geschichte", hat die Idee der Räte nicht an Aktualität verloren, denn die kapitalistische Welt ist keineswegs annehmbarer geworden.
Für den Kommunismus! Für die Anarchie!
La Banda Vaga, Frühling 2004
Siehe auch: Alle Macht den Räten von Erich Mühsam.